„Gestern war es wieder warm und sonnig. Eigentlich wollte ich mit den meiner dreijährigen Hanna und ihrem zweijährigen Bruder Elias wirklich nicht einkaufen gehen, aber es ging nicht anders. Denn beide brauchten unbedingt neue Sommerhosen. Meine Mutter wollte erst einhüten, sagte dann aber kurzfristig ab.
Und so fand ich mich schwitzend in einem Kaufhaus wieder. Hanna nörgelte rum, weil sie unbedingt einen ‚Hello-Kitty’ Pullover haben wollte und Elias wollte nicht in der Karre sitzen bleiben. Es war voll und warm. Immerhin fand ich zwei Hosen, die mir gefielen und dann stand ich eine gefühlte Ewigkeit an der Kasse. Elias drohte ständig aus der Karre zu hüpfen, Hanna lief immer wieder zu irgendwelchen Ständern und kam mit Dingen an. Ich schimpfte erst leise mit ihnen. Und musste dann lauter werden.
Hinter mir standen zwei Frauen, beide so um die 60. Ich sah, dass sie mich die ganze Zeit beobachten. „Nun seien sie doch nicht so böse mit den Beiden, die sind doch ganz lieb“, sagte die eine, Typ pudelige Dauerwelle, zu mir. „Wenn sie immer so mit den reden, werden die noch ganz ängstlich.“ Mir blieben die Worte weg. Wieso glaubte diese Frau, dass sie beurteilen kann, wie ich mich mit meinen Kindern rede? Dass ich sie erst leise ermahnt hatte, dass schien sie nicht bemerkt zu haben. Hätte ich etwas Elias erlauben sollen, mit der Karre umzufallen und Hanna, den Laden auseinanderzunehmen?
Ein paar Tage später passierte mir etwas Ähnliches. Ich war mit Elias und Hanna in der Drogerie. Wir hatten Windeln und den üblichen Kleinkinderkram im Einkaufswagen. „Ich möchte bitte einen Lolli“, sagte Hanna mit ihrer liebsten Stimme. Die Kassiererin sah mich fragend an. Kinder bekommen bei dieser Kette oft einen Lolli, darum ja auch Hannas Bitte. Aber Hanna verträgt Traubenzucker schlecht und ich wollte auch bald Mittagessen kochen. Ich schüttelte den Kopf. Hanna sah traurig nach unten. „Ach, Mama. Ich hätte mich so gefreut.“ Hinter uns stand eine ältere Frau, mit mitleidigem Blick. „Du kannst aber schon so fein sprechen für eine so junge Dame.“ Sie griff in ihre Manteltasche und hatte einen Schokoladenriegel in der Hand. „Guck mal für dich, damit du nicht mehr traurig bist.“ Ich sah die Frau böse an. Wenn ich Hanna jetzt den Riegel wieder wegnehmen würde, wäre Schreialarm. Ich sagte: „Nur einen kleinen Bissen, wir wollen doch gleich essen.“ „Sie sind aber streng“, sagte die Frau. Ich war schon wieder sprachlos.
Ich hätte ihr auf jeden Fall sagen sollen, dass man fremde Kinder nicht einfach füttert, oder? Das macht doch auch keiner bei ihrem Hund! Erst einmal hätte sie doch mich fragen können. Vor allem aber ärgern mich solche Kommentare vor meinen Kindern. Denn vielleicht denken die dann wirklich eines Tages, dass ich streng bin? Wenn andere es ihnen immer erzählen?
Wieso glauben eigentlich völlig fremde Menschen, dass sie sich in meine Erziehung einmischen dürfen? Und warum sagt niemand etwas dazu? Denn die meisten anderen glotzen einfach nur. Sie starren mich und die älteren Einmisch-Damen an. Und sagen nichts.
Ich glaube diese Glotzer nerven mich fast genauso. Es sind die, die nichts sagen, wenn ich mit einem Kleinkind und einem Kinderwagen im Bus angerempelt werde. Die genervt gucken, wenn ein Baby im Bus brüllt oder ein zweijähriger im Eisladen einen Wutanfall bekommt, weil kein Schlumpfeis mehr da ist.
Immer habe ich das Gefühl, dass mich alle begutachten und anstarren. Sie mischen sich ungefragt ein, wenn es nicht nötig ist und gucken missmutig oder böse, wenn sich die Kinder auffällig verhalten. Aber wie sollte ich mich in so einer Situation verhalten? Was kann man dreisten Damen sagen? Und wie kann man sich gegen die bösen Blicke wehren? Ich bin da ganz ratlos.“
Wie kann sich Ulrike in so einer Situation verhalten? liliput-lounge.de hat die Psychologin und Buchautorin Felicitas Heyne gefragt.
liliput-lounge.de: Sehr geehrte Frau Heyne, was halten Sie von Ulrikes Schilderungen?
Psychologin Felicitas Heyne: Solche geschilderten Situationen sind sehr typisch – wahrscheinlich fast jede Mutter hat so etwas so oder so ähnlich schon einmal erlebt. Allerdings unterscheiden sich die Beispiele in einer Hinsicht: Die Supermarkt-Geschichten beinhalten aktive Einmischung Außenstehender, die beklagten „Glotzer“ nicht. Bei diesen geht es nur um – tatsächlich oder vermeintlich – signalisierten Unmut. Deswegen würde ich die beiden Situationen auch unterschiedlich bewerten.
Wie kann sich eine Mutter verhalten, wenn eine aktive Einmischung sie stört?
Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“. Im Prinzip eigentlich ein ganz guter Denkansatz – nur leider leben wir heute nicht mehr in einem Dorf, in dem sich alle Erwachsenen stillschweigend darüber einig sind, wie ein Kind erzogen werden sollte. Speziell die ältere Generation- und in beiden Beispielen handelt es sich ja um ältere Frauen – hat deshalb oft ganz andere Vorstellungen davon, wie ein Kind zu erziehen ist als die jüngere. Zu den Zeiten dieser Damen war es wohl auch durchaus noch Usus, sich in die Erziehung fremder Kinder „einzumischen“, im Positiven wie im Negativen.
Die Privatisierung und Individualisierung der Erziehung in unserer Gesellschaft, die den Umgang von Eltern und Kindern miteinander zur „Intimsache“ erklärt, wie Frank Patalong kürzlich im „Spiegel“ schrieb, ist erst eine Erfindung der letzten paar Jahrzehnte. Die älteren Damen haben sich da einfach nicht angepasst und reagieren so, wie in ihrer eigenen Kinderzeit sicher praktisch jede ältere Dame auch reagiert hätte – und zwar ohne dafür kritisiert zu werden. Ob man das nun gut oder verwerflich findet, ist die eine Sache, darüber kann man sicher diskutieren. Gut durchdacht sind diese Reaktionen bestimmt nicht – im Grunde müsste jedem Erwachsenen klar sein, dass man sich in solchen Situationen eher mit der Mutter als mit dem Kind solidarisieren sollte – aber wirklich böse gemeint sind diese Formen der Einmischung sicherlich in den seltensten Fällen.
Und die genervten Blicke, sind die denn böse gemeint?
Ich denke, diese Situation liegt etwas anders und hat mehr mit der Mutter zu tun als mit den Umstehenden. Warum kann sie die nicht einfach ignorieren? Ist es wirklich so, dass die Umstehenden genervt gucken oder bildet sie sich das nicht nur ein? Warum kann sie nicht einfach denken: „Naja, die hatten wahrscheinlich einen stressigen Arbeitstag, Ärger mit dem Chef und da ist es halt dann schwer zu ertragen, wenn auf der Heimfahrt im Bus einem auch noch ein Kleinkind schreit. Kann mir aber egal sein, ist ja nicht mein Problem.“
Warum fühlt sie sich dermaßen unter Druck gesetzt und schweigend kritisiert von genervten Blicken anderer? Warum glaubt sie, dass sie dauernd „alle begutachten und anstarren“? Ist sie selbst so unsicher, erträgt sie es nicht, aufzufallen? Ist das auch der Grund, warum sie die Kritik der Damen im Supermarkt so sehr trifft? Warum hat sie den Eindruck, der Erwartungshaltung anderer immer und jederzeit völlig gerecht werden zu müssen? Muss sie die „perfekte Mutter“ sein, die ihre Kinder immer und überall hundertprozentig im Griff hat, und warum?
Warum sind diese Situationen denn für die Mutter so schwierig?
Das Problem ist dass Kinder das Unwohlsein der Mutter erspüren und auszunutzen.. Sie haben fix raus, wenn es ihre Mutter in der Öffentlichkeit schnell unter sozialen Druck bringt, wenn sie sich auffällig verhalten – und dass sie dann auch eher mal nachgibt und einen unangemessenen Wunsch erfüllt, um Aufsehen zu vermeiden. Und jedes Mal, wenn die Kinder damit Erfolg haben, verfestigt sich das Muster. Ulrike bringt sich also in eine schwierige Position, wenn sie so viel Wert auf das Bild legt, das sie in der Öffentlichkeit als Mutter vielleicht abgibt.
Das Problem liegt also mehr bei Ulrike selbst als bei den anderen?
Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie es selbst ist, die sich innerlich dauernd „begutachtet und anstarrt“ – und dabei in bestimmten Situationen zu dem Ergebnis kommt, dass sie ihren eigenen Erwartungen an sich als Mutter nicht gerecht. Das, was dann verändert werden müsste, um einen anderen Umgang mit solchen Situationen zu erreichen, wäre Ulrikes Erwartungshaltung an sich selbst bzw. an ihre Kinder – keineswegs die vermeintliche oder tatsächlicher Erwartungshaltung anderer an sie!
Was kann sie tun?
Ulrike könnte sich überlegen, dass sie recht widersprüchliche Ansprüche an ihre Mitmenschen hegt: Im Supermarkt ist ihr die Einmischung Außenstehender unrecht, im Bus vermisst sie sie! Ja, was denn nun? Soll man sie in Ruhe lassen und sich raushalten? Es ist ein bisschen viel verlangt, dass Unbeteiligte immer sensibel erspüren, was Ulrike sich in der jeweiligen Situation von ihnen wünscht und dann auch noch so reagieren!
Stattdessen würde es Ulrike gut tun, wenn sie ein bisschen mehr Selbstbewusstsein und Stehvermögen entwickeln würde. Sie könnte z. B. zu einem Rempler im Bus sagen: „Bitte nehmen Sie ein bisschen Rücksicht, Sie sehen doch, dass ich hier zwei Kinder dabei habe!“ Sie könnte – wenn ihr Zweijähriger einen Wutanfall in der Eisdiele kriegt – mal völlig unkonventionell reagieren, sich zu ihm auf den Boden setzen und mit ihm gemeinsam lautstark rumheulen. Die Chancen stehen meiner Erfahrung nach ziemlich gut, dass der Kleine darüber so perplex ist, dass er zu brüllen aufhört und die ganze Szene sich in Wohlgefallen auflösen.
Zu der Dame im Supermarkt, die ihren Erziehungsstil kritisiert, könnte sie beispielsweise sagen: „Es ist nett von Ihnen, dass Sie sich um meine Kinder Gedanken machen, aber machen Sie sich keine Sorgen, wir kommen ganz gut zurecht!“ Und zu der Dame mit dem Schokoriegel an der Kasse könnte sie freundlich-energisch sagen: „Das ist wirklich lieb gemeint von Ihnen, aber wir wollen gleich essen und wenn sie den Riegel jetzt bekommt, hat sie keinen Hunger mehr. Das verstehen Sie sicher. Trotzdem Danke!“
In solchen Situationen fällt Schlagfertigkeit aber oft schwer. Wie kann man sie üben?
So eine schlagfertige Reaktion setzt Selbstbewusstsein und die Fähigkeit, auf die Meinung anderer zu pfeifen voraus. Wichtig ist auch eine Vorbereitung. Ulrike könnte sich für solche und ähnliche Gelegenheiten ein paar passende Antworten zurechtlegen, die ihr gefallen, damit sie sie das nächste Mal auch im entscheidenden Moment parat hat. Auf diese Weise kann man Schlagfertigkeit trainieren. Interessanter Nebeneffekt solcher Übungen: Meistens braucht man die Antworten dann nicht mehr, weil aufgrund der veränderten eigenen Ausstrahlung solche Situationen gar nicht mehr auftauchen.
Was raten Sie Ulrike noch?
Sie sollte sich überlegen, wann besonders leicht in Stress gerät. Solche Situationen könnte sie zumindest teilweise meiden. Sie könnte gezielt irgendwo einkaufen, wo es eben keine Lollis an der Kasse für die Kinder gibt.
Das Wichtigste in meinen Augen wäre aber, dass Ulrike, gegebenenfalls auch mit professioneller Unterstützung, herausfindet, warum sie sich innerlich von echter oder eingebildeter äußerer Beurteilung so stark unter Druck gesetzt fühlt. Und das zu verändern versucht. Das wird nicht nur ihre Situation als Mutter entspannen, sondern ihr auch in anderen Lebenslagen ganz bestimmt sehr zugute kommen!
![]() Mehr Info auch unter: http://www.heyne.com |
Protokoll und Interview: Silke R. Plagge
*Namen auf Wunsch geändert
Foto: © Chris Fertnig für istockphoto.com
Ich kenne diese Situationen und finde die Antworten von Fr. Dr. Heyne sehr hilfreich.