Verlorene Zwillinge

Auf dem Ultraschallbild war ein merkwürdiger Schatten. Pochte da ein zweites Herz? Der Gynäkologe war sich nicht sicher. Dann bekam Stefanie in der achten Schwangerschaftswoche Blutungen. Heute ahnt sie, dass sie wahrscheinlich ein Kind verloren hat, nur ein Zwilling hat überlebt. Fachleute sprechen vom Vanishing Twin Syndrom. Wie häufig ist das – und kann es für das überlebende Kind gefährlich werden?

Die ersten Wochen von Stephanies überraschender Schwangerschaft waren unkompliziert. Eigentlich war das Baby nicht wirklich geplant – Stephanie und Erik hatten noch zwei Jahre warten wollen. Doch ein Magen-Darm Virus hatte die Pläne des Paares vollkommen geändert: Offensichtlich hatte sie die Pille nicht im Magen behalten können – und nicht daran gedacht, anders zu verhüten.

Als Stephanie dann in der 7. Schwangerschaftswoche beim Gynäkologen war, wuchs auch ihre Freude. Denn sie wünschte sich ja ein Baby. Auf dem Ultraschallbild sah sie einen merkwürdigen Schatten. „Ist da noch ein Kind?“ fragte sie den Arzt. Der sah noch einmal nach. „Ich kann es nicht gut sehen. Ein Herz sehe ich hier deutlich.“ Stephanie war beruhigt. Doch später dachte sie über die Worte nach. Könnte es sein, dass der Frauenarzt ein zweites Herz undeutlich gesehen hatte?

Zwei Tage später bekam Stephanie heftige Magenkrämpfe und blute. „Es war soviel Blut, wie bei einer massiven Regelblutung“, sagt sie. Besorgt geht sie zum Frauenarzt. Der beruhigt sie. Ein Baby war deutlich im Ultraschalll zu sehen. Eindeutig. Doch was war mit dem Schatten und dem zweiten Herzchen? Kann es sein, dass es eine Zwillingsschwangerschaft war? Ihr Arzt konnte oder wollte Stephanies Frage nicht beantworten.

Jede achte bis zwanzigste Schwangerschaft ist zu Beginn eine Mehrlingsschwangerschaft

Tatsächlich kann man heute sehr früh schon Schwangerschaften im Ultraschall sehen, vier Wochen nach der Empfängnis, nach Rechnung der Gynäkologen in der 6. Schwangerschaftswoche, ist an vielen Geräten zu sehen, ob sich eine oder mehrere Eihüllen gebildet haben. Oft wird den Müttern eine Zwillingsschwangerschaft aber erst im dritten Schwangerschaftmonat mittgeteilt, da ein zweiter Embryo häufig auch verschwinden kann.

Prof. Charles Boklage von der East Carolina Universität geht davon aus, dass eine von acht Schwangerschaften eigentlich eine Zwillingsschwangerschaft war. Andere embryologische Forscher gehen davon aus, dass jede zwanzigste Schwangerschaft anfangs eine Mehrlingsschwangerschaft war.

Das Phänomen dass zunächst Zwillinge heranwachsen, aber nur ein Kind ausgetragen wird, ist unter dem Namen Vanishing Twin Syndrom bekannt, das Syndrom des verschwundenen Zwilling. Warum dies eigentlich passiert, ist nicht völlständig geklärt, es gibt verschiedene Theorien. Stirbt ein Zwilling als Fötus, verwächst der winzige Körper meistens spurlos mit der Plazenta oder es kommt zu einer Fehlgeburt mit geringer bis gar keiner Vorwarnung. Anders als bei anderen Fehlgeburten gibt es häufig keine Symptome, keine Wehen und auch nur wenig Blut.

Was bedeutet der Verlust für das überlebende Kind?

Peter Pharoah, Mediziner an der Universität Liverpool hat sich intensiv mit Zwillingsforschung und dem Verlust eines Zwillings in der Schwangerschaft beschäftigt. Seine Studien hierzu wurden im Fachmagazin „Human Reproduction“ publiziert. Pharoah kommt zu dem Schluss, dass das Versterben eines Zwillings auch für das überlebende Kind schwerwiegende Folgen haben kann.

Denn das überlebende Kind habe ein erhöhtes Risiko für Geburtsdefekte, so der Experte. Je fortgeschrittener die Schwangerschaft ist, wenn ein Kind verstirbt und eines überlebt, desto höher auch der Austausch unter den Kindern. Dies gilt nicht nur für den körperlichen Aspekt: Denn näher als die Darmgeräusche und den Herzschlag der Mutter hört ein Zwilling das Geschwisterkind im Bauch. Zwillinge nehmen schon im Mutterleib Kontakt zueinander auf und spüren einander.

Über die Verbundenheit von Zwillingen gibt es viele Studien. Doch was bedeutet es für die Psyche, wenn ein ungeborenes Kind einen Zwilling verliert? Auch ein verlorener Zwilling kann weitreichende emotionale Auswirkungen für das Geschwisterkind haben. Doch dies gilt als wenig erforschtes psychologisches Gebiet. Evelyne Steinemann, Trauma-Therapeutin aus Zürich, hat sich mit diesem Thema beschäftigt und festgestellt, dass Betroffene häufig etwa Verlustängste haben können.

Sehr oft wissen aber weder das überlebende Kind noch die Eltern, dass es ein zweites Kind gab. Manchmal ist dies, wie bei Stephanie, ein vages Gefühl oder eine Blutung. Manchmal bleiben vom verstorbenen Zwilling aber auch eine zweite Plazenta oder Zellreste. Dies sehen Hebammen und Ärzte bei der Geburt. Meist allerdings schweigen sie, um den Eltern Kummer zu ersparen. Manchmal wird dies aber auch dokumentiert und den Eltern mitgeteilt. Experten erklären, dass es für die Eltern wichtig ist, dies zu wissen.

Doch wie sollen Eltern mit diesem Wissen umgehen?

Trauer wird bleiben – erst recht, wenn die Schwangerschaft schon so weit fortgeschritten war, dass die Eltern sich auf zwei Kinder gefreut haben. Es kann sogar besonders schwierig sein, einerseits um ein verstorbenes Kind zu trauern und andererseits sich auf ein lebendes Baby zu freuen. Ausgebildete Hebammen und Ärzte können Mütter und Väter hier unterstützen. Auch die Initiative Verwaiste Eltern e.V. kann helfen.

Bild: © DGID für istockphoto.com

Buchtipp: Evelyne Steinemann: Der verlorene Zwilling. Wie ein vorgeburtlicher Verlust unser Leben prägen kann. Kösel Verlag, 176 Seiten, 6. Auflage 2011, ISBN: 978-3-466-30717-3, € 14,95

 

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3 Gedanken zu „Verlorene Zwillinge“

  1. Ich habe schon mehrfach erfolgreich alleingeborene Zwillinge betreut und geholfen, fest steckende Emotionen (von dem traumatischen Erlebnis im Mutterleib) zu lösen. Ob erwachsen oder in jungen Jahren, die Betroffenen kommen wieder in ihre Kraft und können Erlebnisse von Panik, Verlassenwerden etc. gehen lassen. Sehr oft finden wir auch Schuldgefühle, übergroße Sehnsucht oder sogar Aspekte von Selbstverurteilung (warum habe ICH überlebt…)

    • hallo , ich bin 16 jahre alt und habe seit ich denken kann verlustängste und angst vorm sterben , gestern erfuhr ich , dass ich eigentlich noch einen zwilling hätte – als ich dies hörte brach ich zusammen in einem bitterlichen heulkrampf. (war bei einer kinesologin- die mein unterbewusstsein stimulierte) .. ja momentan komm ich nicht wirklich gut damit klar denn ich hätte diesen zwilling sehr sehr gerne gekannt & hab hohe schuldgefühle – wieso lebe ich und du nicht ? es tut mir so leid ! ich vermisse dich ..
      hatte immer sehnsucht aber bis gestern wusste ich nichtmal wieso . ich klammerte auch an freunden und wollte diese nicht verlieren , ich dache schon ich wäre psychisch am ende , doch zum glück ging meine mutter mit mir zu dieser kinesologin. meiner mutter fiel dann plötzlich ein , ach ja ich hatte doch mal so etwas gallertartiges in der sw im klo bemerkt – dachte aber es sei eine zyste und spülte es weg. ja jetzt ist es bewiesen und meine sehnsucht und kummer menschen zu verlieren ist plötzlich weg. mir geht es selbst vieeel besser aber meinen zwilling werde ich nie vergessen – dieser hat einen ganz besonderen platz , nämlich in meinem herzen

      • Ich habe vor kurze, durch eine Familienaufstellung erfahren, dass ich aller Wahrscheinlichkeit nach, einen Zwilling gehabt habe. Jetzt versuche ich damit umzugehen. Ich habe immer das Gefühl gehabt „Alleine“ zu sein. Viele Sachen in meiner Vergangenheit machen Sinn, so wie ich sie gemacht habe. Das Buch von Austermann ist echt der Hit, zu verlorenen Zwillingen. Das Hilft mir, so einiges echt gut zu verstehen und nachzuvollziehen.
        Meine Tochter wird bald 3 Jahre alt. Ich hatte in der 14. SSW schwere Blutungen. Jetzt versuche ich rauszufinden, ob sie vielleicht auch einen Zwilling gehabt hat. Sie schläft nur Stundenweise in ihrem Bett und wenn ich zu Hause bin, dann hängt sie mir „nur“ am Bein, es fällt ihr auch schwer Abschied zu nehmen – oder sich von mir zu trennen – auch wenn es nur für wenige Minuten sein sollte.

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