Es kam völlig unerwartet. Anne fing heftig an zu weinen. „Jetzt ist der ganze Stoff ruiniert“, schniefte sie. Sie war gerade dabei, Gardinen für das Babyzimmer zu nähen. Anne und Tränen? Diese Powerfrau hatte ich noch nie weinen sehen. Die gestandene Architektin, die locker ein Haus für eine Weltfirma baute und zig Männer herumkommandierte. Und nun ein Heulkrampf wegen ein bisschen Stoff? „Das sind wohl die Schwangerschaftshormone, ich kann mich immer gleich so aufregen“, sagte sie. Verstehen konnte ich Anne nicht wirklich. Denn die Naht war nur ein wenig schief, mehr nicht.

Ein paar Jahre später allerdings fiel mir diese Szene wieder ein. Als ich weinend im Supermarkt stand, weil die Sahne ausverkauft war. Ich hatte mich so auf frische Erdbeeren mit Rahm gefreut und nun das. Das war so ungerecht und so gemein! Die Tränen liefen mir runter. Überhaupt hatte ich nah am Wasser gebaut. Dramen konnte ich im Fernsehen kaum ertragen. Als ich zum ersten Mal ein Babymützchen gekauft habe, war ich unendlich gerührt. So etwas kenne ich von mir gar nicht.
Aber auch andere Freundinnen berichten von Schwangerschaftstränen. Von Liedern, deren Texte Weinkrämpfe auslösen, von Rührung über ein Babyfoto und vom heftigen Wuttränen, weil der Göttergatte die falschen Brötchen mitgebracht hat.
Tränen in der Schwangerschaft sind kein Grund zur Sorge
Eine Schwangerschaft führt bei einigen Frauen zu gesteigerter Emotionalität. Gefühlsgeladene Achterbahnfahrten von strahlendem Glück zu plötzlich tiefer Trauer sind bei werdenden Müttern ganz normal. Dies liegt vor allem am Hormonhaushalt, der besonders zu Beginn der Schwangerschaft verrückt spielt.
Dass Gefühle in der Schwangerschaft ganz wichtig sind, liegt nah. Zukunftssorgen, Überforderung und anstrengende Beschwerden wie bleierne Müdigkeit oder ständiges Unwohlsein belasten viele Mütter. Oft ist dann eben eine verrutsche Naht einfach der Tropfen zu viel, der das Fass zum überlaufen bringt.
Weinen – warum eigentlich?
Wie genau sind menschliche Tränen zusammengesetzt und was bewirkten sie im Körper? Das wollten William H. Frey und Vincent Tuason vom St. Paul-Ramsey Medical Center im US-Bundesstaat Minnesota wissen.
Körpereigene Substanzen, die sich bei Stress oder starken Emotionen in unserem Körper ansammeln können, werden über die Tränendrüsen ausgeschieden. Für ihre Studie mussten 200 Männer und Frauen monatelang weinen. Peinlich genau wurde jede vergossene Träne aufgezeichnet. Dabei stellte sich heraus, dass nur 55 Prozent aller Männer einmal im Monat weinen, jedoch 94 Prozent der Frauen.
Besonders interessant fanden die Experten die Zusammensetzung der verweinten Tränen: Leuzin-Enkophalin, Lysozyme und Prolactin war in ihnen enthalten. Leuzin-E. ähnelt dem Schmerzhemmer Morphium – der Köper produziert diese Stoff selbst. Lysozyme sind antibakterielle Enzyme, die für die Infektionsabwehr benötigt werden. Und Prolactin ist ein das Hormon, das die Bildung von Muttermilch anregt.
Da bei Schwangeren das Hormon Prolactin vermehrt gebildet wird, erklärt dies wahrscheinlich auch, warum sie so nahe am Wasser gebaut haben.
Die Forscher der US-Studie konnten herausfinden, dass das Weinen den Körper von Stoffen befreit, die er unter Stress produziert. Der körperliche Heul-Effekt dient nach der These der Wissenschaftler damit unbewusst zur Entspannung oder Schmerzlinderung.
Vielleicht hat sich die Natur etwas dabei gedacht, dass werdende Mütter so ein Ventil haben, um nicht in eine Stress-Spirale zu geraten?
Generell sind können Frauen – auch wenn sie nicht schwanger sind – ihren Gefühlen leichter Luft machen. Augenärzte der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft in München bewiesen, dass Männer bis zu 17-mal im Jahr weinen, bei Frauen laufen bis zu 64-mal im Jahr die Tränen. Das heißt also bis zu viermal öfter. Das Interessante daran ist laut den Forschern aber, dass das Weinen nur bei sechs Prozent der Männer zu richtigen Schluchzern wird, 65 Prozent der Frauen aber geradezu heulen würden. Elisabeth Messmer, Augenärztin an der Universität München, erklärt: „Weibliches Weinen wirkt länger, dramatischer und herzzerreißender“.
Denn Tränen, so der Evolutionsbiologe Oren Hasson von der Universität Tel Aviv in der Zeitschrift „Evolutionary Psychology“, beeinflussen unser Gegenüber. Wer weine, signalisierte Verletzlichkeit und Hilfsbedürftigkeit. Und das wiederum stärke zwischenmenschliche Bindungen.
Vielleicht ist es aber auch eine Mischung aus allem. Die Tränen der werdenden Mütter helfen sicher Stress abzubauen, bewirken aber gleichzeitig Zuwendung und Trost.
Auf jeden Fall versiegt der enorme Tränenfluss auch wieder. Spätestens mit dem Ende der Stillzeit haben sich die Hormone wieder umgestellt – und die Heul-Attacken reduzieren sich wieder auf das gewohnte Maß zurück. Das ist hoffentlich ein Trost.
Wir sind neugierig auf Kommentare: Hatten oder haben Sie in der Schwangerschaft auch nahe am Wasser gebaut? Was hat Sie zum Weinen gebracht?
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Ich bin gerade im letzten Drittel der Schwangerschaft sehr nah am Wasser gebau. Ich fühle mich von meinem Partner allein gelassen in der SS.Ich muss mich immer um alles kümmern und er interessiert sich nur für YouTube und sein Auto. Ich glaube da ist mein Weinen verständlich…
Oje 🙁 Vielleicht ist die Schwangerschaft beim Partner noch nicht angekommen? Normalerweise hilft da viel reden…
Ich bin gerade im ersten Drittel (7SSW) und ich heule plötzlich ohne Grund… Nur weil die Musik so schön ist, oder dass der Schmetterling gerade vorbeigeflogen ist… Und normalerweise bin ich eher emotionslos. 😮
Hallo ich bin auch in der 23ssw, habe auch gerade wieder eine wein-attacke, da kommt alles mit einmal ich muss an Streitigkeiten denken, an das es nicht alles perfekt ist,an den Tod von meinen Opa, an die Trennung meiner Eltern ( was schon über 8 Jahre her ist) ..
An so vieles eben!
Jetzt fühl ich mich gleich viel besser… finden ich sehr spannend, wie man Tränen wissenschaftlich erklärt! Das erklärt wirklich einiges! Meine Mutter wollte mir schon ernsthaft einreden, dass meine häufigen Gefühlsausbrüche meinem ungeborenen Kind schaden könnten, und es „traurig“ machen könnten – jetzt weiß ich, dass alles in Ordnung ist!
Jetzt in der 20. SSW ich bin nur am heulen. Film, Lied, Menschen und Empfindungen in allen Lebenslagen. Einfach furchtbar. Sonst bekomme ich immer Kopfschmerzen vom vielen flennen momentan nicht. Ich habe heut ganzen Tag bis auf ein paar Stunden durchweg geheult, Hallo das passiert sogar nach dem Sex und mein Mann denkt bestimmt schon das ich nen Schaden habe. Als ich das erste mal nach dem Sex heulen , umstellen, war er total erschrocken und machte sich wahnsinnige Sorgen das er mir weh getan hat. Dann hatte ich ein schlechtes Gewissen, Teufelskreis. Bei mir hilft dann nur noch tief durchatmen und abschütteln.
Ich bin jetzt in der 7. SSW und heule auch ständig los, meistens weis ich nicht einmal warum. Plötzlich fließen die Tränen, einfach so. An meinem Partner liegt es nicht, er ist ganz lieb- und verständnissvoll, begleitet mich zu Arztterminen und Beratungsgesprächen und freut sich sehr offensichtlich auf die beiden Kleinen (ja, es sind Zwillinge).
Es ist wirklich schön zu wissen, dass es für das Weinen einen nachvollziehbaren Grund gibt. Ich kam mir damit bisher so ein wenig blöd vor, konnte aber auch nichts dagegen tun.
Ganz schlimm ist es übrigens beim Anschauen von Baby- und Ultraschallbildern. Und das obwohl ich mich wirklich auf unsere Beiden freue.