Nein sagen im Supermarkt

Wie können Eltern ihre Autorität zeigen, ohne ihre Kinder zu kränken oder zu verletzen? Ein Supermarkt ist nur einer von vielen Schauplätzen, an denen Väter oder Mütter sich entscheiden müssen, wer der Boss und welcher Führungsstil der beste ist.

Was können Mutter und Vater unternehmen, wenn ihr Kind sich vor dem Süßigkeitenregal in ein Monster mit einem eisernen Willen verwandelt?

Denn genau das passiert, ständig, im Supermarkt, überall. Eine Frage, die Eltern kleiner Kinder in ganz Europa Menschen wie mir stellen, wenn wir Vorträge halten oder in der Zeitung eine Kolumne über Kindererziehung veröffentlichen, ist: „Was macht man mit einem unmöglichen dreijährigen Kind, das unbedingt Schokolade, Süßigkeiten oder ein Eis haben will und total ausflippt, wenn man Nein sagt?“

So spielte sich eine Szene im Supermarkt ab, die ich beobachtete:

Der Verlauf des Geschehens an diesem Novembertag ist klassisch: Alles fängt am Eingang des Supermarkts an. Die Mutter läuft mit dem kleinsten Kind im Buggy und hält ihren dreijährigen Sohn an der Hand. Er schaut mit großen, glücklichen Augen zu ihr auf und sagt: „Mama, darf ich heute etwas Süßes haben?“ „Du weißt sehr gut, dass du nicht jedes Mal etwas Süßes haben kannst, wenn wir einkaufen gehen. Darüber haben wir uns doch unterhalten.“ (Die Stimme der Mutter ist gespielt freundlich, und sie vermeidet, ihm in die Augen zu sehen.)

„Aber Mama, kann ich nicht eine Kleinigkeit haben?“„Das denke ich nicht. Jetzt kannst du Mama helfen und auf deine kleine Schwester aufpassen. (Die Stimme ist schon etwas defensiver, und der Versuch, ihrem Sohn das Gefühl zu geben, dass er groß und damit vernünftig ist, ist nicht wirklich gelungen.)

Es vergeht eine Weile, der Kleine bleibt jedes Mal stehen, wenn er etwas Verlockendes sieht, um zu fragen: „Darf ich das haben?“ Seine Stimme und seine Mimik sind immer noch genauso optimistisch und fröhlich. Die Antworten der Mutter variieren von „Nein, das ist nichts für dich“ bis hin zu „Mama hat doch Nein gesagt, mein Schatz … oder?“ (Ihre Bewegungen haben allmählich etwas Fieberhaftes. Seine Fragen stressen sie.) Schließlich kommen sie zum Süßigkeitenregal. Der Kleine nimmt sich eine Tafel Schokolade und hält sie ihr entgegen, mit allen Anzeichen der beginnenden Verzweiflung in seiner Stimme und in seinem Gesicht: „Die darf ich doch haben?“

„Nein, das hatte ich doch gesagt. Verstehst du das nicht? Du kannst nicht jedes Mal, wenn wir einkaufen gehen, etwas bekommen. Darüber haben wir uns doch unterhalten.“ (Ihre Stimme ist jetzt überhaupt nicht mehr überzeugend, und ihr Appell an ihn ist deutlich: Jetzt musst du aufhören oder Mama wird es so leid, dass sie zum Schluss nicht mehr weiß, was sie machen soll.)

Der Sohn, verbissen und beharrlich: „Aber, ich WILL sie haben!“ Die Mutter senkt ihre Stimme und flüstert fast: „Ich hatte doch „Nein“ gesagt. Verstehst du das nicht? Wenn du so weitermachst, kann Mama dich nirgendwo mehr hin mitnehmen, weil du so unmöglich bist!“ Er drückt die Schokolade so fest an sich, dass sie fast schmilzt, und seine Stimme überschlägt sich jetzt vor Verzweiflung und Kampfbereitschaft: „Ich WILL SIE HABEN, ICH WILL!!!“

Was passiert hier, wenn man es von außen betrachtet?

Die Mutter versucht erfolglos, ihrem Sohn die Schokolade aus der Hand zu nehmen. Sie fordert ihn auf, sich anständig zu benehmen, und wirft zugleich den Umstehenden entschuldigende Blicke zu. Sie lächeln leicht Kopf schüttelnd zurück, als ob sie versuchen, ihr Selbstvertrauen mit einem kollektiven Wissen, dass „Kinder in diesem Alter halt schwierig sind“, zu stärken. Das Ganze endet natürlich damit, dass das Kind seinen Willen bekommt und, mit der Schokolade in der einen und einem halb aufgegessenen Vollkornbrötchen in der anderen Hand sowie der kleinen Schwester als verwunderter Zeugin für die sonderbare Logik des Lebens, zufrieden weitergeht.

Diese Mutter möchte, wie so viele andere Eltern, darauf bestehen, dass sie am Ende Nein zu ihrem Sohn gesagt hat. Das hat sie jedoch nicht. Sie meinte vielleicht Nein, hat es jedoch nicht klar, freundlich und eindeutig gesagt. Was sie zum Ausdruck gebracht hat, war: „Ich finde eigentlich nicht, dass du heute etwas bekommen solltest, und ich hoffe, dass du groß genug bist, das zu verstehen, so dass es nicht in einen Konflikt ausartet, bei dem ich den Überblick verliere und keine Ahnung habe, wie ich ihn lösen soll.“

Ihr Sohn bekommt damit die Verantwortung für ihr gegenseitiges Verhältnis zugeschoben und diese Verantwortung können weder drei- noch dreizehnjährige Kinder tragen.

Diese Mutter befindet sich mitten im größten Dilemma vieler moderner Eltern: Wie können Eltern ihre Autorität zeigen, ohne ihre Kinder zu kränken oder zu verletzen? Ein Supermarkt ist nur einer von vielen Schauplätzen, an denen Väter oder Mütter sich entscheiden müssen, wer der Boss und welcher Führungsstil der beste ist.

So hätte die Mutter handeln können:

Wenn der Sohn seine Mutter zum ersten Mal fragt, ob er Süßigkeiten haben darf, kann sie antworten: „Darüber muss ich nachdenken … Nein, das darfst du nicht.“ (Mit einem normalen Ton in der Stimme und einem freundlichen Blick.) „Aber warum nicht?“

„Weil ich sie dir nicht kaufen möchte.“ (Man beachte das „Ich“. Es ist nicht klug, über sich selbst in der dritten Person zu sprechen, wenn man Autorität ausstrahlen möchte.) „Aber warum?“

„Das möchte ich dir nicht erklären.“ (Anschließend sollte die Mutter schnell mit ihren Einkäufen anfangen und den Augenkontakt zum Sohn unterbrechen, in der Hoffnung, dass er wie durch ein Wunder weiß, dass sie eine kluge Mutter ist.)

Jedes Mal, wenn er danach fragt, sollte sie ihn freundlich anschauen und gelassen Nein sagen. Nicht mehr und nicht weniger. Sollte dieser Stil neu sein, wird er zum Schluss möglicherweise trotzdem einen kleineren Krieg anfangen, dem sie begegnen kann, indem sie ihm über die Haare streicht und sagt: „Ich verstehe sehr gut, dass du gerne etwas Süßes haben möchtest, aber heute brauchst du das nicht“ und anschließend weiter zur Kasse geht. Sie kann die Umstehenden ruhig ignorieren, da sie Mitgefühl zeigen, solange sie sie sehen kann. Im Café werden sie jedoch anfangen, über die verwöhnten Kinder von heute und ihre autoritätslosen Eltern zu lästern.

Deswegen funktioniert dieses Vorgehen: 

Das ganze Geheimnis liegt in ihrem ersten Nein, das die Mutter ernst meinen sollte. Wenn nicht, kann sie genauso gut von Anfang an Ja sagen und seine Freude mit ihrem Sohn teilen. Das macht sie nicht zu einer schlechteren Mutter. Sein Wohlbefinden und seine Entwicklung sind nicht davon abhängig, ob sie Ja oder Nein sagt. Sie hängen davon ab, warum er die jeweilige Antwort bekommt. Eine beherzte Antwort ist immer eine gute Antwort. Eine Antwort, die nur dazu da ist, Konflikten aus dem Weg zu gehen, ist immer eine schlechte Antwort.

Warum ist es so wichtig, dass die Mutter freundlich ist, wenn sie ihren Sohn anschaut und mit ihm spricht? Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens hat er ja nichts falsch gemacht. Er bittet um etwas, das er gerne hätte, und dazu sollten alle in einer gesunden Familie das Recht haben. Zweitens muss er die ganze Zeit wissen, dass ihr Verhältnis in Ordnung ist und dass seine Mutter weiß, was sie tut.

Viele Pädagogen empfehlen Eltern, frühzeitig „eine Vereinbarung“ darüber mit den Kindern zu treffen, was sie beim Einkaufen haben dürfen und was nicht. Das ist oft eine schlechte Lösung. Es inspiriert die Eltern nicht, selbst Stärke zu zeigen, und die „Vereinbarung“ wird zu einem Alibi, auf das sie sich stützen können. Auf diese Weise wird die Verantwortung wieder auf das Kind geschoben, das nicht über die notwendigen Voraussetzungen verfügt, sie zu erfüllen. So entsteht ein Teufelskreis. Durchbrechen Sie diesen im Supermarkt, zur Schlafenszeit oder am Esstisch – ganz egal wo, durchbrechen Sie ihn!

 

Jesper Juul wurde 1949 in Dänemark geboren. Er arbeitete unter anderem als Bauarbeiter und Koch und studierte schließlich Geschichte und Religion. Zunächst war er als Heimerzieher und Sozialarbeiter tätig und ließ sich später zum Familientherapeuten ausbilden.

Der amerikanische Psychiater und Familientherapeut Walter Kempler und der dänische Kinderpsychiater Mogens A. Lund sind seine Vorbilder bei dem Ansatz aktiv mit den Familien und den Kindern zusammen zu arbeiten. Er gründete 1979 gemeinsam mit Lund und Kempler das Kempler Institute of Scandinavia  und 2004 gründete er das „familylab“.

Jesper Juul ist der Autor von rund zwanzig Büchern, von denen zehn auf Deutsch erschienen sind. Seine bekanntesten sind „Das kompetente Kind“ und „Was Familien trägt – Die kompetente Familie – das familylab-Buch“. Auch „Nein aus Liebe“ und „Pubertät – Wenn Erziehen nicht mehr geht“ sind  Bestseller.

Gemeinsam mit Jeser Juul berät „familylab – die Familienwerkstatt“ die liliput-lounge.

www.familylab.de
www.jesperjuul.com

Ursprünglich veröffentlicht auf www.familylab.no

 

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