Schon mal das Wort „Fremdschämen“ gehört? Als Elternteil lernt man schnell, das man sich für einen anderen Menschen sehr schämen kann. Nämlich für den eigenen Nachwuchs. Denn der kann mitunter einfach nur peinlich sein.
Wutanfälle und Eimerdebakel
Jesper kriegt im Supermarkt Zornesausbrüche. Der Dreijährige will partout nicht im Einkaufswagen sitzen, er flitzt er durch die Gänge und macht lauter unnötige Beutezüge. Streit ist vorprogrammiert.
Hier hilft nur elterliche Strategie: Ohne Kind einkaufen gehen, nur in überschaubaren Läden oder ihn gezielt einzelne Teile, die garantiert nicht kaputt gehen, einpacken lassen.
Jule (30 Monate) liegt im Dauerkrieg mit anderen Kindern. Im Freizeitbad teilt sie das Planschbecken mit einem gleichaltrigen Mädchen. Zwei Eimer laden die Kinder zum Wasser schleppen ein. Zwei? Beide Kinder wollen den roten Eimer haben und zerren schreiend daran. Dann beißt Jule zu.
Wie unangenehm – auch für die Eltern. Denn wenn das eigene Kleinkind anderen Kindern Schmerzen zufügt, ist man in einer verzwickten Situation. Das eigene und das fremde Kind müssen beruhigt werden, fremde Eltern entschuldigend angelächelt werden. Selbstverständlich muss man einer Zweijährigen erklären, dass das Verhalten falsch ist. Wie schmerzhaft ein Biss ist, wird sie aber sicher erst verstehen, wenn sie selbst „das Opfer“ ist. Hier brauchen Eltern Langmut.
Kindermund tut Wahrheit kund
Mit kleinen Kindern sieht man die Welt mit ihren Augen, sagt man so schön. Und es gibt vieles anzugucken. „Warum ist die Frau da so dick?“ fragt Anna (3) mit durchdringender Stimme im Bus. „Und wieso hat der Mann eine Glatze?“
Der gleichaltrige Jan schafft es, mit seinen Kommentaren seine Eltern zum Schwitzen zu bringen. Gemeinsam mit Onkel und Tante besucht die Familie den Zoo. Jan ist faziniert von den vielen Tieren. Nachdenklich betrachtet er seinen nicht gerade schlanken Onkel. „Du, Onkel Klaus, du sieht genauso aus wie ein Hängebauchschwein.“ Ein paar Stunden später tischt die Tante gefüllte Knödel mit Zwetschenmus auf. Der kleine Norddeutsche hat so etwas noch nie gegesssen. Als er die Füllung erklärt er: „Du, da sieht ja aus wie Kacke.“
Situationen, die Erwachsene sprachlos machen. Wie soll man angemessen reagieren? Kleinkinder haben eine so genannte egozentrische Wahrnehmung. Sie glauben, dass alle genau so viel wissen und die Welt so sehen wie sie, daher können sie auch noch nicht lügen. Wenn ein Erwachsener ein Buch zum dritten Mal geschenkt bekommt, murmelt er einen höflichen Dank. Die neue schreckliche Haarfrisur wird geflissentlich übersehen. Kleine Kinder können das nicht. Sie sagen direkt, dass sie schon zwei Lego-Feuerwehren besitzen oder das Mamas Haare jetzt blöd aussehen.
„Um gesellschaftsfähig zu sein, muss man lügen können“, sagt der schweizer Entwicklungspsychologe Luciano Gasser von der Pädagogischen Hochschule Luzern. US- Studien belegen, dass die Wahrheit im Schnitt 50-mal am Tag verdreht wird. Britische Wissenschaftler kommen sogar auf 200-mal.
Kinder müssen die Erwachsenenwelt erst noch kennen lernen
Und genau das ist der Grund, warum kleine Kinder peinlich sind. Sie verstehen die Erwachsenenwelt noch nicht. Und sie fragen. Eigentlich sind nicht die Kinder peinlich, sondern die Erwachsenen. Woher soll denn ein Kind wissen, warum manche Menschen schlank sind und andere nicht? Das man zwar sagen darf, dass der Bauch weh tut, das Ohr schmerzt, aber nicht, dass bestimmte Körperregionen jucken? In solchen Situationen müssen Eltern souverän sein. Vor allem den anderen Erwachsenen gegenüber. Entschuldigend lächeln eben, Schultern zucken. Und dann dem Kind versuchen, zu erklären, dass man das nicht sagt. Entweder leise oder später. „Der Mann ist vielleicht traurig, dass er keine Haare mehr hat, es ist nicht schön, wenn man ihm das sagt.“
Erst zwischen dem dritten und dem vierten Lebensjahr lernen Kinder, dass Gedanken privat sind und dass andere Menschen auch anders denken. Allmählich begreifen sie, sich in andere hineinzuversetzen und merken, womit sie andere ärgern oder erfreuen können. Rücksicht und Mitgefühl haben psychologisch die gleiche Wurzel wie Lügen.
Was hilft Eltern?
Eltern können nicht mehr tun als erklären und abwarten. Humor und Gelassenheit machen solche Situationen einfacher. Man kann die besten Erlebnisse mit dem Kind aufschreiben. Denn irgendwann wird aus dem offenherzigen Knirps, der die Mama anguckt und lautstark im Gottesdienst fragt, ob sie etwa eben gepupst hätte, ein Teenager. Heranwachsenden ist fast alles peinlich. Vor allem ihre eigenen Eltern. Schön, wenn man sie dann bei Gelegenheit daran erinnen kann, dass sie selbst einem eben auch die Schamesröte ins Gesicht getrieben haben.
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Wir sind neugierig. Haben Sie auch Situationen mit den lieben Kleinen erlebt, bei denen Sie am liebsten im Boden versunken wären?