Interview Jesper Juul: Das Kind im Zentrum

Eltern möchten das Beste für ihr Kind. Oft wird dann der langersehnte Nachwuchs zum Mittelpunkt der Familie, um den alles kreist. Eine Entwicklung, die für alle Beteiligten meist fatal ist, denn weder Eltern noch Kind können mit dieser Rollenverteilung gut leben. Doch finden Eltern den richtigen Weg? Der Familientherapeut Jesper Juul erklärt im liliput-lounge-Interview, warum Bauchgefühle wichtig sind

liliput-lounge:Viele Eltern sind sehr verunsichert, wenn es um das Thema Erziehung geht. Zu dem Thema gibt es eine Unmenge an Ratgebern, Experten und auch an Fernsehsendungen. Ist Eltern sein wirklich so eine schwere Herausforderung?
Jesper Juul:
Viele Ideen von früher funktionieren heute nicht mehr. Als ich ein junger Vater war, gab es scheinbar nur ‚falsch’ und ‚richtig’. Aber so eindeutig ist es nicht mehr. Im ersten Jahr ist es eigentlich noch einfach, da müssen Kinder mit viel Liebe umsorgt werden. Doch dann wird es schwierig. Eltern müssen sich fragen, was sie für Ziele haben und wie sie die erreichen können. Und darauf gibt es eben keine eindeutige Antwort, die für alle gilt.

Sendungen wie ‚Supernanny’ kann ich gar nicht ernst nehmen. Das, was dort geschieht, nenne ich ‚Erziehungspornographie’. Das was man da sieht, hat so wenig mit Erziehung zu tun wie ein Pornofilm mit Erotik.

Aber die Einschaltquote und eben auch der Erfolg von Büchern, die Kinder als ‚Tyrannen’ titulieren, zeigen ja die Verunsicherung.
Ja, Eltern sind verunsichert. Aber viele engagierte Eltern verbringen auch viel zu viel Zeit mit Erziehung. Gerade Paare mit hohem Wissens- und Bildungsniveau stellen ihr Kind oft so sehr in den Mittelpunkt, die sie selbst verschwinden.

Was bedeutet es denn für das Kind, wenn es so im Zentrum der Familie steht?
Für das Kind hat das schlimme Folgen. Es steht allein in der Mitte und die anderen kreisen um es herum. Wenn ein Kind entscheidet, ob Mama abends weg gehen darf, dann läuft etwas falsch. Kinder brauchen Eltern, die Konflikte nicht scheuen.

Eltern, die ihren Kindern alle Probleme abnehmen, etwa zu Haus bleiben, weil das Kind sonst schimpft, sorgen dafür, dass ihre Kinder keine eigenen Lösungsstrategien entwickeln können. Und tatsächlich sind diese Kinder dann vielleicht sogenannte Tyrannen. Sie fordern immer mehr, je mehr geboten wird. Aber Kinder können nur ihre Wünsche benennen, nicht ihre Bedürfnisse.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Es gibt Eltern, die ihre Kinder verwöhnen, ihnen jedes Spielzeug kaufen und den Weihnachtswunschzettel als Einkaufsliste sehen. Ein Kind kann sich ja jeden Tag Schokolade wünschen, aber das ist nicht wirklich sein Bedürfnis.

Erwachsene kennen das auch, wenn eine Frau Zärtlichkeit und Nähe vermisst, dann nützt es wenig, wenn der Mann ihr täglich Blumen und Schmuck schenkt. Kinder können ihre Sehnsüchte nicht benennen, sie sind dann ‚quengelig’ oder ‚unerzogen’. Denn auf Dauer halten sie es eben im Mittelpunkt nicht aus.

Die stärkeren Kinder rebellieren, hören ihren Eltern nicht mehr zu. Das passiert dann manchmal sehr heftig in der Pubertät. Andere Kinder, die unselbständig sind, werden selbstzerstörerisch.

Und was bedeutet das für die Eltern?
Eltern, die ihre Kinder stets in den Mittelpunkt stellen, reduzieren ihr Leben auf eine Rolle – zumindest dann, wenn sie mit den Kindern zusammen sind. Sie versuchen ihre Elternrolle so gut wie möglich zu spielen und vergessen dabei, sie selbst zu sein. Die Kinder begegnen also nur Schauspielern, keinen echten Menschen.

Aber Eltern können es lernen, sich selbst treu zu bleiben und auch ein eigenes Erwachsenenleben zu führen. Denn Kinder brauchen Eltern, die auch für sich und miteinander leben. Dabei möchten wir Eltern gern ermutigen und stärken.

Wie kann das aussehen?
Das ist natürlich nicht leicht, es fängt beispielsweise damit an, dass Eltern sich klar machen, dass ihre Partnerschaft ganz wichtig ist. Familie darf nicht auf eine Dienstleistungsveranstaltung für Kinder reduziert werden.

Es muss ganz einfach Platz für die erwachsenen Bedürfnisse der Erwachsenen sein. Ihre Partnerschaft mit all ihrer Zärtlichkeit, ihrer Nähe und ihrem erotischen Spiel ist ihr erstes Kind. Dieses Kind erfordert die gleiche liebevolle Aufmerksamkeit wie das Kind, das Sie geboren haben.

Gleichzeitig ist es wichtig ‚Ja’ zu sagen, wenn wir ‚Ja’ meinen und ‚Nein’ zu sagen, wenn ‚Nein’ meinen und die eigenen Bedürfnisse zu erkennen. Aber vor allem können Eltern sehr wohl auch auf ihr Bauchgefühl vertrauen.

Aber das ist ja nicht so einfach, gerade verunsicherte Eltern suchen doch oft Rat bei Experten.
Ja, aber die können eben nur einen Rat geben, mehr nicht. Die Ratschläge können helfen, aber Eltern entscheiden selbst, wie sie die umsetzen.  Es gibt kein richtig oder falsch. Eine Mutter hat mir geschildert, dass sie begeistert war vom Prinzip des ‚Attachment Parenting’, bei dem die Betonung auf der sehr engen Bindung liegt. Das Kind wollte aber so viel Nähe überhaupt nicht. Ich habe sie gefragt, ob sie erst die Methode oder erst ihr Kind kannte. Die Frage ist nämlich: Was passt zu meinem Kind? Und nicht: was sagt ein Experte dazu?

Methoden sind gut, um Fremdsprachen zu lernen, Häuser zu bauen und so weiter – für gute Beziehungen taugen sie nicht. Dazu brauchen wir Vertrauen, Anerkennung, Gleichwürdigkeit und die Fähigkeit, sich als Mensch zu zeigen – mit allem was ich bin und auch nicht bin. Es geht also nicht darum: Wie kriegen wir dich dazu, dass du das machst was wir wollen? Sondern: Was können wir voneinander lernen? Wir von den Kindern und die Kinder von uns.

Jesper Juul InterviewJesper Juulwurde 1949 in Dänemark geboren. Er arbeitete unter anderem als Bauarbeiter und Koch und studierte schließlich Geschichte und Religion. Zunächst war er als Heimerzieher und Sozialarbeiter tätig und ließ sich später zum Familientherapeuten ausbilden.Der amerikanische Psychiater und Familientherapeut Walter Kempler und der dänische Kinderpsychiater Mogens A. Lund sind seine Vorbilder bei dem Ansatz aktiv mit den Familien und den Kindern zusammen zu arbeiten. Er gründete 1979 gemeinsam mit Lund und Kempler das Kempler Institute of Scandinavia  und 2004 gründete er das „familylab“.Jesper Juul ist der Autor von rund zwanzig Büchern, von denen zehn auf Deutsch erschienen sind. Seine bekanntesten sind „Das kompetente Kind“ und „Was Familien trägt – Die kompetente Familie – das familylab-Buch“. Auch „Nein aus Liebe“ und „Pubertät – Wenn Erziehen nicht mehr geht“ sind  Bestseller.Gemeinsam mit Jesper Juul berät „familylab – die Familienwerkstatt“ die liliput-lounge.
www.familylab.de
www.jesperjuul.com

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