Szene 1. Auftritt der Geschwister P. Die Fleischerin freut sich, dass die beiden Kindergartenkinder mit ihrer Mutter vorbei kommen und Aufschnitt kaufen. Sie reicht den Kindern zwei Wiener-Würstchen über die Theke. Doch statt eines „Danke!“ empörtes Aufheulen: „Der hat eine größere Wurst als ich.“ Bittere Tränen laufen der 5jährigen über die Wangen.
Szene 2. Kinderzimmer der Geschwister P. Mama P. ist im Nachbarraum. Plötzlich entbricht ein ohrenbetäubender Lärm. Brüder P. (3) schreit aus vollem Hals. Seine Schwester versteckt sich unter der Bettdecke. „Die hat mein Polizeiauto geklaut!“ Die Mutter verweist darauf, dass geschätzte fünf Polizeiautos im Kinderzimmer geparkt sind. Doch das Wutgeheul beider Kinder verebbt nur langsam.

Geschwister und Konkurrenten
Ganz normaler Geschwisteralltag? Meist ja. Denn völlig konfliktfrei sind Geschwisterbeziehungen nie. Das beginnt schon mit der Geburt des Jüngeren. So sehr sich die Eltern freuen und bemühen, das ältere Kind muss sich nun die Aufmerksamkeit von Mama und Papa mit einem anderem teilen. Psychologen nennen dies den „Entthronungs-Schock“, denn für die Erstgeborenen kann es sehr frustrierend sein, plötzlich nicht mehr die einzige Prinzessin oder der Prinz zu sein. Die Psychologin Yvonne Schütze hat Geschwisterpaare über zwei Jahre nach der Geburt des jüngeren Kindes beobachtet. Eifersucht kam erst ins Spiel, wenn das Baby anfing zu krabbeln – und an die Spielsachen herankam.
Das Baby wird zunehmend als Konkurrent empfunden – ein Kampf um Liebe und Zuwendung der Eltern? „Schaut man genauer hin, woran sich Geschwisterstreit entzündet und warum es immer wieder zu aggressiven Auseinandersetzungen kommt, so wird deutlich, dass es in erster Linie die ständigen Vergleiche sind, welche die Geschwister bezogen aufeinander anstellen und die sie bewegen, miteinander in Konkurrenz zu treten“, so Geschwisterforscher Professor Hartmut Kasten vom Staatsinstitut für Frühpädagogik in München.
Und diese Vergleiche sind immer da. Was darf das andere Kind, was man selbst noch nicht erlaubt bekommt? Wer bekommt den schöneren Becher, wer den beliebten Kuschelplatz bei Mama? „Vor allem bei Geschwistern, die vom Alter her eng beieinander liegen und dasselbe Geschlecht haben, kommt es oft zu Neid und Missgunst“, erklärt Prof. Kasten.

Wie schlimm ist Neid?
Missgunst und Neid gelten als schlecht. Doch tatsächlich sehen Experten denn Neid nicht unbedingt negativ. „Konkurrenzdenken ist eigentlich etwas ganz Natürliches“, erklärt der Psychologe Prof. Dr. Bernd Gasch. „Es wird im Leben immer jemanden geben, der in irgendeinem Bereich mehr hat oder mehr Anerkennung bekommt.“
Geschwisterkinder lernen früh, mit diesen Gefühlen umzugehen und können daraus Positives ziehen. „Neid kann außerdem ein Ansporn zu mehr Leistung sein: Ich sehe etwas Bewundernswertes und nehme mir vor, das auch zu schaffen.“
Wenn der dreijährige Joshua schon mit einem Laufrad herumflitzt ist seine zweijährige Schwester Jule neidisch. Auch sie würde so gerne so schnell sein und so einen wunderbaren Fahrradhelm haben. Bei jeder Gelegenheit versucht die Kleine auch auf das Laufrad zu klettern – um zu üben.
Wie sollen die Eltern reagieren? Gleich zwei Laufräder kaufen, auch wenn das jüngere Kind noch gar keines braucht? Der Satz ‚Das ist aber ungerecht!‘ wird noch häufig fallen. Für Eltern ist das oft schwierig. Der Psychologin Katharina Grünwald aus Köln, die eine Ausbildung bei Jesper Juul und familylab machte, gelingt es, die Zwickmühle zu lösen. „Gerechtigkeit heißt nicht, alle gleich zu behandeln, sondern jedem gerecht zu werden.“
Denn jedes Kind ist anders und hat andere Bedürfnisse. Das Besondere und Einzigartige an jedem Kind sollte altersgerecht geschätzt und gefördert werden. Und das bedeutet, dass Joshuas jüngere Schwester Jule nun einmal gar kein Laufrad braucht, da sie noch zu klein dafür ist. Trotzdem ein zweites Laufrad kaufen? Das würde dem elterlichen Wunsch nach friedlicher Harmonie entsprechen.
Doch für die Kinder wäre das keine sinnvolle Lösung. „Lasst die Kinder streiten“, erklärt auch Jesper Juul – denn gerade an diesen Konflikten können Kinder lernen.
Das Ziel von Eltern sollte es sein, dass kleine Kinder am Anfang bei Konflikten begleitet werden – und sie diese untereinander klären, je älter sie werden. Denn Streit und Unfrieden auszuhalten und dann wieder aufeinander zu zugehen, das ist eine hohe Kunst, die auch Erwachsene oft kaum beherrschen.
Oft vertragen sich streitende Geschwister erstaunlich schnell. Interessanterweise können Eltern unabsichtlich aus den Kampfhähnen ein Team zaubern. Mit Sätzen wie „Nein, wir gehen heute nicht raus – und das Laufrad bleibt hier.“ Denn dann sind sich die Kinder einig. „So eine blöde Mama.“