Aus dem Tagebuch von Heike Wolter: Juni 2007: Momentan ist es bei uns sehr durcheinander – ich bin nämlich schwanger. Eigentlich ein Grund zum wahnsinnig Freuen…
Dieser allererste Moment, als Heike Wolter von ihrer vierten Schwangerschaft erfuhr, war voller überschwänglicher Freude. „Doch dieser Moment dauerte nur fünf Minuten. Dann zog meine Narbe, glaubte ich wenigstens. Und die Angst war da“, erzählt sie.
Denn diese sehr gewünschte Schwangerschaft war ganz anders als ihre bisherigen Schwangerschaften. „Meine Folgeschwangerschaft“, hat die Autorin Heike Wolter ihr Buch genannt, in dem es um ganz besondere Schwangerschaften geht: um Schwangerschaften nach dem Verlust eines Kindes. Ein Thema, das vielen unangenehm ist. Denn es geht um das Schlimmste, was sich Schwangere und Eltern vorstellen können, um den Tod. Aber es geht auch um Zuversicht und Leben. Denn die neue Schwangerschaft ist ja auch eine neue Hoffnung.
Die Trauer war unbeschreiblich
Heike Wolter hat dies selbst erlebt. Zusammen mit ihrem Mann Thomas freute sie sich im Sommer 2005 auf das dritte Kind. Ihre Kinder Niklas und Norea, damals 5 und 3, wussten, dass ihre Schwester bald geboren werden sollte. Nach zwei Kaiserschnitten entschied sich Heike bewusst für eine spontane vaginale Geburt. Die Ärzte unterstützten ihren Wunsch.
Und doch kam es zu einem statistisch gesehen sehr seltenen Gebärmutterriss, einer Uterusruptur. So etwas passiert bei einer von 1500 Geburten. Durch das Zerreißen der Gebärmutter starb das Baby im Bauch der Mutter während der Wehen. Die Trauer um Lilly war unbeschreiblich. Und trotzdem stellte sich die Frage nach einem weiteren Kind unmittelbar nach dem Verlust. „Noch auf dem Weg in Operationssaal bat ich die Ärztin mehrfach, sie möge meine Gebärmutter erhalten.“ Sicher war dies eher unbewusst geäußert, denn klare Gedanken konnte Heike unmittelbar nach Lillys Tod gar nicht fassen.
Später fand sie es zunächst schlimm, dass sie diesen Wunsch gehabt hatte. Es kam ihr wie ein Verrat an ihrem verstorbenen Baby vor, dass sie an ein weiteres Kind gedacht hatte. Die Ärzte erklärten dem Paar, dass eine weitere Schwangerschaft möglich sei, dass sie aber unbedingt mindestens ein Jahr lang warten sollten.
Die erste Zeit nach Lillys Tod war für die ganze Familie schwierig. Die Umwelt begegnete ihnen mit Hilflosigkeit. Sätze wie: „Ihr habt ja noch die anderen Kinder“ taten weh. Besonders schlimm war das Schweigen. „Alle drehten sich weg“, erzählt Heike. „Wir mussten auf die anderen zu gehen. Das war nicht leicht.“
Die Trauer um das Baby war schwer. „Ich wollte unsere Erinnerungen an Lilly festhalten. Aber es gab nur normale Babyalben. Trotzdem habe ich eines gekauft, für die Fotos von unserem Baby, Erinnerungen an die Schwangerschaft. Aber es wird immer leere Seiten in diesem Buch geben. Der erste Zahn, die Taufe, die Geburtstage. Genauso, wie die Lücke in unserer Familie immer bleiben wird.“
In der Schwangerschaft hatte Heike ihre Doktorarbeit beendet. Doch Lillys Tod änderte auch ihre Berufswünsche. „Eigentlich wollte ich wissenschaftlich arbeiten. Aber das einsame Arbeiten am Schreibtisch tat mir nicht gut. So entschied ich mich erstmal für das Lehramtsreferendariat. Das war für mich ein Rettungsanker – ein hervorragender, denn an der Schule fühlte ich mich sehr wohl!“
Und doch blieb neben Beruf und dem Alltag, den auch die Geschwister Niklas und Norea mit Schule und Kindergarten einnahmen, Raum für das Grübeln. Zum Beispiel für die Frage nach der Schuld. Sicher, die Statistik war auf ihrer Seite. „Aber geholfen hat mir das zunächst nicht. Bis mich eines Tages eine Ärztin fragte, ob ich denn wüsste, was bei einem Kaiserschnitt geschehen wäre.“
Nicht nur diese Erkenntnis der Unvorhersehbarkeit half der Mutter. Trost fand Heike für sich persönlich auch im Glauben. „Ich habe mich ein Jahr nach Lillys Tod taufen lassen.“
Mit der Freude über die neue Schwangerschaft kam die Angst
Zu diesem Zeitpunkt kam auch der Wunsch nach einer weiteren Schwangerschaft auf. „So schnell, wie wir uns das gedacht hatten, funktionierte das Ganze nicht. Wir hatten noch fast ein Jahr des Wartens vor uns.“
Dann endlich war Heike wieder schwanger.
Doch diese „Folgeschwangerschaft“ war sehr belastet, denn gleich nach der Freude kam ja die Angst. „Das Schwierigste war, dass die ja sehr begründet war. Denn es war medizinisch bedingt möglich, dass so ein Verlust wieder passieren könnte“, berichtet die Lehrerin. „Ab der fünften Schwangerschaftswoche war ich ständig bei der Ärztin. Ich wollte Sicherheit, die mir niemand geben konnte.“ Heike suchte Hilfe bei Büchern. Einer Welt, in der sie sich auskennt, denn sie arbeitet auch als Lektorin. Sie suchte einen Ratgeber für so eine besondere Schwangerschaft. Eine Schwangerschaft nach dem Verlust eines Kindes. „Aber es gab so ein Buch gar nicht.“
Ein Buch, das Hilfe zur Selbsthilfe gibt
Heike hatte bereits Bücher veröffentlicht. Und zwar Bücher, deren Themen sie selbst suchte. Ein Buch für trauernde Geschwister („Lilly ist ein Sternenkind“) und drei Erinnerungsalben für verwaiste Eltern. Das Schreiben wurde Hilfe zur Selbsthilfe. Denn während ihrer vierten Schwangerschaft begann Heike Wolter an einem Buch über Folgeschwangerschaften nach dem Verlust eines Babys zu schreiben. „Es half mir, meine eigene Situation aus der Distanz zu betrachten. Als professionelle Sachbuchautorin konnte ich alles auch einmal rational betrachten.“
Über Foren und Selbsthilfegruppen lernt Heike Wolter viele betroffene Familien kennen. Familien, die ihre Babys in der Schwangerschaft, bei der Geburt und kurz danach verloren haben. Sie interviewt für ihr Buch 34 Familien, die offen davon berichten, wie sie die Schwangerschaft nach dem Verlust erlebt haben. „Das Buch soll zeigen, dass es viele verschiedene Wege gibt, mit der Situation umzugehen. Es soll kein Vorschreiben und kann auch keine Gebrauchsanleitung sein. Und es kann auch nicht vorgaukeln, dass die nächste Schwangerschaft immer glücklich endet. Es kann wieder etwas passieren, wenn das auch unwahrscheinlich ist.“
Viele Aspekte begleiten alle betroffenen Familien, von denen sich vor allem die Frauen zu Wort melden in Heike Wolters Buch. Zum Beispiel die Frage nach dem „Warum?“. Denn die kann unendlich belasten. Doch diese Frage für sich zu klären, kann für die Folgeschwangerschaft sehr wichtig sein, weil die Antwort – zumindest in medizinischer Hinsicht –helfen kann, wieder das Gefühl von Kontrolle zu gewinnen.
Immerhin können Betroffene Informationen sammeln und gegebenenfalls versuchen, ein Wiederholungsrisiko einzuschätzen und sich entsprechend beraten lassen. Oder aber einfach durch das Buch die Gewissheit erlangen, dass sie mit ihren widersprüchlichen Gefühlen nicht allein sind. „Sich selbst wieder zu vertrauen und die Verantwortung nicht abzugeben, ist ganz wichtig“, betont Heike Wolter.
Eine Schwangerschaft nach Verlust wird auch immer von Angst begleitet. Und von Trauer, die immer wiederkehrt. „Frauen, die eine frühen Verlust erlebt haben, sind beispielsweise oft erleichtert, wenn die Woche des Verlustes in der nächsten Schwangerschaft vorbei ist. Ansonsten gibt es immer schwierige Tage der Trauer, etwa der Geburtstag des verstorbenen Kindes oder der geplante Entbindungstermin beispielsweise.“
[box type=“note“ border=“full“ style=“rounded“ icon=“none“]Ein besonderes Wandtatoo und ein Bild von Lilly haben heute einen besonderen Platz im Haus der Familie. Übersetzt steht dort: Es gibt keinen Fußabdruck, der so klein ist, dass er keine Spuren auf dieser Welt hinterlassen hat.“[/box]
Eine schwierige Zeit – für die ganze Familie
Für alle Beteiligten ist die neue Schwangerschaft belastet. „Väter trauern anders, sie erleben auch eine Folgeschwangerschaft anders. Sie müssen oft viel mehr eine Versorgerrolle einnehmen, fühlen sich sehr hilflos und versuchen ihre Ängste zu überspielen. Dafür sorgen meist ihre eigene Erwartungshaltung und die der Umwelt. Sie verhalten sich dann manchmal wie der sprichwörtliche laute Rufer im dunklen Wald.“
Auch für Geschwisterkinder ist eine erneute Schwangerschaft mit der Angst vor einem erneuten Verlust verbunden. Wie sie damit umgehen, hängt von ihrem Alter ab. Kindergartenkinder können sehr direkt fragen: „Wird das Baby wieder sterben?“ Sollen Eltern dann antworten, dass es wieder passieren kann? Eine schwere Frage. Heike Wolter findet, dass Kinder gute Schutzmechanismen haben, die zulassen, dass sie nur soviel fragen, wie sie auch verstehen. „Für meine Kinder war es wichtig, sich optimistisch, aber auch ehrlich zu zeigen.“
Glück über zwei weitere gesunde Kinder – doch die Lücke bleibt
Heike Wolter ist froh, dass die vierte Schwangerschaft sich von der dritten unterscheidet: Dieses Mal erwartet sie ein Winterbaby – einen kleinen Jungen. Gemeinsam sucht die Familie früh einen Namen aus, versucht die schönen Seiten der Schwangerschaft zu genießen, den Bauch zu bemalen und sich auf Samuel zu freuen. Doch einfach ist das nicht. Heike Wolter muss elf Wochen in der Klinik liegen. „Alle Risiken konnten nicht ausgeschaltet werden. Ich hatte das Gefühl, dass mein Körper ein ganz unsicherer Ort für mein Kind ist.“
In der 35. Schwangerschaftswoche wird Samuel dann per Kaiserschnitt geboren. Doch trotz der großen Freude über den gesunden kleinen Jungen kommt nach der Geburt auch wieder Trauer um Lilly hoch. „Mir wurde wieder klar, wie es hätte sein können. Das erfahren viele Eltern, dass die Geburt eines weiteren Kindes eben dies zeigt. Denn man hat ein Kind verloren, das man fast im Arm hatte. Das nächste Kind ist kein Ersatz. Und man wird auch nie wieder der Mensch, der man vor dem Verlust war.“
Für Außenstehende ist es oft nicht leicht zu verstehen, dass ein gesundes Kind keine Lücke füllen kann. „Nun ist ja alles gut“, möchten viele gern denken. Für die Betroffenen ist das schwer, denn sie wollen ihr verstorbenes Kind nicht vergessen wissen. Denn für sie war es sehr real, auch wenn andere Menschen es nie kennengelernt haben. „Die Existenz eines Kindes beginnt ja nicht mit der Geburt, sondern für Eltern viel früher. Es war in Gedanken da, das Leben mit dem Baby war schon geplant“, sagt die Autorin.
Trauermomente bleiben. Auch für Heike Wolter, die im April 2010 noch ein Kind, Raban, bekam. „Ich habe fünf Kinder. Vier lebende und ein Sternenkind. Eigentlich sind wir sieben, einer fehlt. So haben wir jetzt quasi zwei Geschwisterpärchen mit einer großen Lücke dazwischen. Doch eigentlich ist es Reihe von Kindern.“
Ohne Lilly hätte Heike Wolters Leben anders ausgesehen, aber sie schätzt auch dieses neue Leben und ist in ihm, dem ungewollten, ungeplanten, unerwarteten glücklich. „Für mich ist es wichtig, dass es Lilly gab und dass sie soviel bewirkt hat.“ Ihr Buch über die Folgeschwangerschaft hat sie ihren Söhnen Samuel und Raban gewidmet. Die beiden Jungen haben ihr das Vertrauen in das Leben und einen tiefen Glauben an die Zukunft wiedergegeben.
[box type=“note“ border=“full“ style=“rounded“ icon=“none“]Dr. Heike Wolter (geb. 1976) studierte Germanistik und Geschichte. Sie lebt als Lehrerin, Lektorin und Autorin bei Regensburg. Sie engagiert sich aktiv für Eltern, die ein Kind verloren haben. Ihr aktuelles Buch ist ein Begleiter für Eltern, die ein oder mehrere Kinder verloren haben. Es will Mut machen für die besondere Herausforderung einer Folgeschwangerschaft und hilft Betroffenen und Fachpersonen mit vielen Tipps, sehr offenen und persönlichen Berichten und wichtigen Adressen. Im Buch geht es um die Trauer, um das Warten auf eine neue Schwangerschaft, die besondere Zeit der Folgeschwangerschaft, die Geburt, um das Leben mit dem Baby sowie die Rolle von Vätern, Geschwistern und Mitmenschen in dieser Zeit. Informationen zum Thema gibt es auch im Internet auf der Seite www.folgeschwangerschaft.de
Buchtipp: Heike Wolter: Meine Folgeschwangerschaft. Begleitbuch für Schwangere, ihre Partner und Fachpersonen nach Fehlgeburt, stiller Geburt oder Neugeborenentod. Edition Riedenburg, 244 S.,ISBN: 978-3-902647-36-8, Paperback, 24,90 €[/box]
Foto oben: © Julie Fairman für istock.com
Fotos Wandtatoo, Autorenportrait: © Heike Wolter