KISS – Fakt oder Fiktion?

Das Baby schreit viel, ist oft in einer Schieflage und hatte eine schwere Geburt? Es könnte das KISS-Syndrom haben. Fünf Prozent aller Kinder sollen darunter leiden – doch die Diagnose ist umstritten. Gibt es diese Krankheit überhaupt?
Paula war ein Schreibaby. Von Anfang an. Sie trank schlecht und spukte viel. „Sie hatte immer ein mürrisches unzufriedenes Gesichtchen,“ erzählt ihre Mutter Heike. Die Eltern haben das Gefühl, das irgendetwas nicht stimmt.
Besonders auffällig war auch, das Paula immer krumm in der Wiege lag: “ Wie so ein kleines C.“ Eine Suche nach Hilfe begann. „Das wächst sich aus,“ meint die Hebamme. „Vielleicht braucht sie anderes Milchpulver,“ grübelte der Kinderarzt. Heike hat das Gefühl nicht ernst genommen zu werden. Sie sucht eine Schreiambulanz mit ihrer Tochter auf, bekommt die Adresse einer anderen Kinderärztin. Die rät, einen Orthopäden aufzusuchen.
Der Orthopäde ist sich sicher: Paula leidet unter der Kopfgelenk induzierten Symetrie-Störung, kurz KiSS-Syndrom. Mit einer manuellen Therapie, wird die Kleine behandelt. „Er schien die Handgriffe genau zu kennen, es hat heftig geknackt und Paula weinte bitterlich. Doch nach drei Behandlungen hatten wir ein neues Kind zu Hause.“
Was genau ist das KiSS- Syndrom?
Das KISS-Syndrom bezeichnet keine Krankheit, sondern eine Steuerungsstörung. Die betroffenen Kinder sollen unter unter einer Blockade des Kopfgelenkes leiden. Die Funktion zwischen der Schädelbasis und den ersten Halswirbeln sei eingeschränkt – Nervenbahnen und Muskelstränge liegen hier, sodass der gesamte Organismus betroffen sei.
Verursacht werden soll das KiSS durch eine schwere Geburt, etwa durch eine Saugglocke, zuviel Druck bei einem Kaiserschnitt oder aber auch durch eine viel zu schnelle Geburt, Übergewicht oder familiäre Dispositon. Als typische Symptome gelten:
  • Schiefhals (dadurch oft Schonhaltung, Bevorzugung einer Seite)
  • Durchbiegung der Wirbelsäule
  • Gesichtsasymmetrie
  • asymmetrische Benutzung der Extremitäten (Arme und Beine)
  • verminderte Muskelspannung
  • schlechtes Trinken, häufig Stillproblem
  • häufiges Erbrechen
Behandelt wird das Syndrom von Manualtherapeuten, Orthopäden und Osteopathen. Die Kosten werden von den gesetztlichen Krankenkassen nicht übernommen. Das liegt daran, dass viele Experten daran zweifeln, dass das Syndrom wirklich existiert.
Nur eine Modeerscheinung?
Der Präsident der Gesellschaft für Neuropädiatrie Prof. Heinen, erklärt „Es gibt kein Kiss-Syndrom.“ Er und viele andere Mediziner halten die Erkenntnisse von Heiner Biedermann, der Anfang der 90er Jahre das Syndrom entdeckte, für zweifelhaft. Die Studien seien wissenschaftlich nicht überprüft.
Natürlich gibt es Symmetriestörungen, erklärt der Hamburger Kinderorthopäde Dr. Ralf Stücker. Doch Blockaden im Säuglingsalter hält er für nicht möglich. Die Fehlstellung sei eigentlich natürlich. Am Ende der Schwangerschaft wird in der Gebärmutter eng und so gucken eben die Baby häufig zu einer Seite.
Vertärkt wird die Fehlhaltung daduch, dass viele Eltern ihre Kinder nie auf den Bauch legen aus Angst vor dem plötzlichen Kindstod. Tatsächlich müsse das Kind dann behandelt werden.
So einfach und plausibel die Erklärung „KiSS“ scheint, viele Experten sehen, dass weder Röntgenbilder noch Studien die Existenz wirklich beweisen. Für den Experten Rolf Stücker droht Kindern nicht durch die Behandlung Gefahr, sondern durch die Diagnose: „Kindern wird ein Etikett zugeordnet und mögliche weitere Diagnostik verzögert.“ So können schwerwiegende Krankheiten, etwa Stoffwechselstörungen oder Entwiclungsdefizite nicht rechtzeitig erkannt.
Paulas Mutter ist es egal, ob die Experten nun daran glauben, ob es eine Störung namens KiSS gibt oder nicht. „Ich bin einfach froh, dass wir Hilfe bekommen haben. Meine Tochter hat gerade angefangen zu krabbeln, sie ist seit der Behandlung ein fröhliches Kind. Vielleicht hätte es sich wirklich ausgewachsen. Das ist mir egal. Hauptsache meinem Kind geht es gut.“
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