Durch Zufall hielt das Auto im zähfließenden Hamburger Stadtverkehr neben dem PKW einer Familie. Ein 30jähriger, unterwegs mit Mutter und Schwester, blickte von der Rückbank direkt in das Nachbarfahrzeug. Und was er sah, erschütterte den 30jährigen: Er sah eine Faust, die einen kleinen Jungen heftig schlug. Das Kind weinte heftig, der massive Schlag ging direkt auf die Beine des Kleinkindes. Für den Beobachter eindeutig Gewalt gegen ein Kind. Er rief die Polizei.
Wie die Gerichtsreporterin des Hamburger Abendblattes Bettina Mittelacher berichtet, kam es gut dreieinhalb Monate nach dem Vorfall zu einem Prozess gegen die Eltern des Kindes.

Dem Paar wurde Körperverletzung vorgeworfen. Das Verhalten des dreijährigen Sohnes während der Autofahrt soll zu einem heftigen Schlag gegen den Oberschenkel geführt haben, auch die Mutter habe das Kind danach geschlagen. Vor Gericht versuchte sich der der 27-jährige Vater zu verteidigen. Die sechs Tage alte Tochter habe hinter dem Fahrersitz in einer Babyschale geschlafen, der dreijährige habe hinter dem Beifahrersitz gesessen, geflennt und gegen den Sitz der Mutter getreten.
Das Kind habe er nicht geschlagen, nur die Sitzschale, so der Vater
Die Lebensgefährtin des Angeklagten, 24 Jahre alt, bestätigt diese Version. Sie habe nur nach hinten gegriffen, ihr Freund gegen die Sitzschale geschlagen. Nachdem die Polizei die Familie aufgesucht hätte, seien sie zum Arzt gefahren, der habe bestätigt, dass da nichts sei. Doch die Mutter hatte bei der ersten Anhörung noch erklärt, ihr Freund habe mit der flachen Hand das Bein des Kindes geschlagen.
Der Zeuge hingegen widerspricht sich nicht, er habe alles genau beobachten können. Die Richterin lobte ihn: Leute, die aufpassten, wenn es den Verdacht der Gewalt gegen Kinder gäbe, seien vorbildlich. Und nun gibt der Vater des kleinen Jungen zu: „ Es kann sein, dass ich mein Kind doch getroffen habe“, sagt er. „Und das tut mir von Herzen leid.“
Das Verfahren wird gegen eine Geldbuße von 100 Euro für eine Einrichtung für missbrauchte Kinder eingestellt. Die Richterin erklärt, dass es sicher stressig sei mit einem Säugling und einem quengeligen Dreijährigen unterwegs zu sein, aber sie erklärt den Eltern: „Diese Situation kann täglich auftreten, und damit müssen Sie umgehen können.“
[quote]“Kinder dürfen nicht geschlagen werden, unter keinen Umständen.“[/quote]
Kinder haben ein Recht auf Erziehung ohne Gewalt
Seit 1989 ist das Recht auf gewaltfreie Erziehung in Artikel 19 der UN-Kinderrechtskonvention international festgeschrieben. „Lange galt weltweit der Satz, man darf niemanden schlagen, es sei denn es ist das eigene Kind“, schreibt Prof. Kai-D. Bussmann. „Nunmehr vollzieht sich weltweit ein rechtlicher Wandel, denn in mehr als der Hälfte der Länder sind Körperstrafen in Schulen untersagt und in 10 Ländern der Europäischen Gemeinschaft erstreckt sich dieses Verbot auch auf die Eltern. Auch der deutsche Gesetzgeber hat im November 2000 das Recht auf gewaltfreie Erziehung festgeschrieben.
[quote]„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“[/quote]
(§ 1631 Abs. 2 Satz 2 Bürgerliches Gesetzbuch)
Die Intention des Gesetzes: Das Bewusstsein von Eltern für eine gewaltfreie Erziehung zu schärfen. Denn auch bei häufigen, leichten körperliche Strafen können, genau wie bei schweren, viele Entwicklungsschäden drohen, darin ist sich die internationale Familiengewaltforschung einig. Ausdrücklich wird im Gesetz nicht nur körperliche, sondern auch psychische Gewalt erwähnt. Liebesentzug, Herabwürdigung oder öffentliche Bloßstellung sind genauso unzulässig wie jede Form der körperlichen Gewalt.
Gewaltfreie Erziehung, so konnte der Prof. Bussmann in umfangreichen Studien belegen, wird von gut 90 Prozent der Bevölkerung in Deutschland befürwortet. „Obwohl viele Eltern zwar Gewalt in der Erziehung ablehnen, ist sie aus dem Erziehungsalltag noch nicht verschwunden.“
Der Erziehungsalltag ist nicht gewaltfrei
Das bestätigt auch Cordula Lasner-Tietze, Referatsleiterin für Kinderrechte des Deutschen Kinderschutzbundes e.V. „Auch wenn Eltern das Ideal haben, gewaltfrei zu erziehen, so können Überforderung, Stress und emotionale Reaktionen dazu führen, dass sie mit Gewalt reagieren. Wichtig sei, so betont Lasner-Tietze, dass die meisten Eltern so etwas bedauern, das Gespräch mit dem Kind suchen und sich entschuldigen. Und sich Hilfe suchten, wenn sie merkten, dass sie Unterstützung brauchen. „Leider gibt es Familien, in denen Gewalt eine Rolle spielt, die keine Hilfen annehmen, die kein Problembewusstsein haben.“
Das neue Recht macht es Kindern nicht möglich, gegen ihre Eltern zu klagen. Es zeigt zwar, dass Gewalt gesellschaftlich geächtet wird und steht für ein Umdenken. Familienrechtlich bedeutet diese Neuregelegung, dass die Bestimmungen einer Gefährdung des Kindeswohls strenger ausgelegt werden können. Cordula Lasner-Tietze betont, dass somit auch der Schutz des Kindes und die Möglichkeiten zu einer Hilfestellung besser gegeben sind. „Wichtig ist, dass Kinder die richtige Hilfe bekommen das Jugendamt kann beispielsweise Erziehungsberatung oder eine ambulante Familienhilfe bieten.“ Wichtig sei Unterstützung und Hilfe, reine Strafen würden Kindern oft wenig nützen.
Wie können Zeugen helfen?
Die Amtsrichterin im Hamburger Fall hat den Zeugen ausdrücklich gelobt. Im Alltag haben viele ähnliches erlebt, die Nachbarin, die immer wieder ihren Sohn anschreit, das Beobachten eines Vaters, der im Supermarkt den nörgelnden Sohn am Arm zieht – wie sollte man dann reagieren? Cordula Lasner-Tietze betont: „Jeder muss Hilfe leisten, wenn ein Kind gefährdet ist.“
Generell komme es immer auf die Situation an. In extremen Fällen, wenn zu befürchten ist, dass Leib oder Leben in Gefahr seien, müsse die Polizei angerufen werden. Dann gelte es sofort einzuschreiten.
Im Falle der immer wieder schimpfenden Nachbarin hat die Expertin einen anderen Rat: „In so einem Fall kann die Mutter angesprochen werden. Man kann ihr Hilfe anbieten, damit sie aus der Dynamik der Situation aussteigen kann und sie sich beruhigen kann.“ Gleiches wäre auch im Supermarkt möglich. Es würde den Eltern zeigen, dass ihr Verhalten eben nicht in Ordnung sei. Und dem Kind signalisieren, dass Erwachsene hingucken. „Ein Einschreiten ist wichtig und signalisiert ganz klar, dass das Verhalten nicht in Ordnung ist. Auch wenn es nicht einfach ist, es ist ein wichtiges Zeichen.“
Ist es nicht möglich, die Eltern direkt anzusprechen, dann sollte das Jugendamt darüber informiert werden, dass man beobachtet habe, dass ein Kind dringend Hilfe und Unterstützung bräuchte. Das Jugendamt muss dann reagieren, der Anrufer wird den Eltern nicht genannt werden.
Für Kinder ist es wichtig, dass sich Erwachsene interessieren und sie schützen, indem sie gegen die Gewalt vorgehen. „Jeder hat die Pflicht, Hilfe zu leisten. Diese Hilfestellung sollte gesellschaftlich verankert sein“, sagt Cordula Lasner-Tietze. Oft seien auch die Eltern selbst langfristig dankbar, weil sie selbst nicht wissen, wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten sollen. „Es gibt viele Möglichkeiten zu lernen, mit der eigenen Wut anders umzugehen und Alternativen zu entwickeln. Ansprechpartner können Eltern im Jugendamt oder in Kinderschutzzentren finden.“
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