Früher war das gemeinsame Mittagessen in vielen Familien Standard. Heute ist es schon fast die Ausnahme, die nur am Wochenende stattfindet. Die Eltern essen am Arbeitsplatz, die Kinder im Kindergarten oder in der Schule. Das Abendessen soll dann einfach nur schnell gehen, am einfachsten sind ein paar Schnittchen vor dem Fernseher.
Der bekannte dänische Familientherapeut Jesper Juul sieht darin eine kritische Entwicklung. Denn eine gemeinsame Tischkultur sei wichtig. „Ohne gemeinsames Essen geht die Einheit der Familie verloren“, erklärt er. In seinem Buch „Was gibt’s heute“ spricht er sich unbedingt für familiäre Esskulturen aus. Denn diese, davon ist der bekannte Autor überzeugt, erzeugen Nähe und sorgen für eine enge Bindung.

Eltern sollten ihre Kinder zum Essen einladen, sich Zeit nehmen eine angenehme, entspannte Atmosphäre zu schaffen. Dazu gehöre es auch, keine starren Regeln zu haben. So sollten Kinder nicht etwas essen müssen, was sie nicht wollen. Kinder würden gesundes Essen nicht nur Zwang lernen, sondern durch Vorbilder.
„Wenn die Eltern genussvoll speisen, werden die Kinder neugierig und wollen von selbst probieren.“ Es sei gar nicht nötig, Kinder unbedingt dazu aufzufordern, neue Speisen zu essen. Wenn Eltern Neues immer wieder anbieten und selbst die frischen Champignons oder den Tomaten-Mozzarella-Salat offensichtlich gern essen, werden die Kinder neugierig.
Die Vorbildfunktion von Eltern ist wichtig, auch dann, wenn Kinder schwierige Esser sind. Essen sollte Spaß machen. Mütter und Väter können mit ihren eigenen Essgewohnheiten ein Beispiel setzten, sagt auch Dr. Katja Kröller, Ernährungspsychologin der Universität Potsdam. Wer selbst zu Schokolade und Knabberkram greife, könne nicht unbedingt erwarten, dass die eigenen Kinder Äpfel und Gemüsesticks bevorzugten.
Gemeinsamer Genuss statt strikte Erziehungspraktiken
Damit die gemeinsame Mahlzeit auch wirklich allen Freude macht, werden verschiedenen Zutaten benötigt. Das Rezept kann sich jede Familie so zusammenstellen, wie es allen Familienmitgliedern mundet. Gemeinsam überlegen, was gegessen werden könnte, zusammen kochen, den Tisch schön decken und Quellen für mögliche Störungen wie Telefon, Fernseher und Handy abstellen.

Doch was ist mit Regeln? Viele Eltern haben das Gefühl, sie müssten ihren Kindern am Tisch doch die wichtigsten Manieren beibringen. Aber muss das wirklich sein? Jesper Juul verneint das. Essen solle Spaß machen, das Miteinander im Vordergrund stehen. Würde man liebe Freunde, die zu Besuch kommen, ständig maßregeln? Möchte man selbst beim Essen ständig ermahnt und gerügt werden?
Die meisten heutigen Erwachsenen kennen aus der eigenen Kindheit viele Regeln. Und Sprüche.
Die häufigsten Ermahnungen sind diese hier:
- Mund zu beim Essen!
- Sitz gerade!
- Iss deinen Teller leer!
- Das wird jetzt probiert!
- Waren die Augen wieder größer als der Magen?
- Nicht das Messer ablecken!
- Nimm die Serviette!
- Halte die Gabel richtig!
Solche Redensarten sollten Erwachsenen laut Jesper Juul sofort aus ihrem Wortschatz verbannen, denn Vorträge, Drohungen oder ständige Appelle verderben den Appetit und machen wenig Lust auf einen fröhlichen Austausch.
Kinder können oft nicht einschätzen, wie gut ihnen etwas schmeckt oder nehmen sich versehentlich zu viel. „Denk an die armen Kinder“ oder ähnliche Aussprüche sind für den Erziehungsexperten „ reine Machtdemonstration“. Auch Erwachsene schätzen schließlich manchmal falsch ein, wie hungrig sie sind. Kinder fällt es eben noch schwerer.

Viele Eltern legen vor allem Wert auf Regeln und Essmanieren, weil sie das Gefühl haben, das gehöre zu einer guten Erziehung. Natürlich ist es wichtig, bestimmte Formen beizubringen. Etwa ein gemeinsamen Tischspruch, oder eine „Guten Appetit“ – größere Kinder sollten auch wissen, dass es manchen Familien mit Tischgebet gibt und wie sich da ein Gast zu verhalten hat. Gleiches gilt für Regeln in einem Restaurant. Aber so etwas muss nicht täglich gepredigt werden. Wie wäre es, ab und zu selbst zu Hause „feines Lokal“ zu spielen? Dann darf aber auch Papa nicht schmatzen. Wenn es gut klappt, winkt dann irgendwann wirklich ein Besuch bei Lieblingsitaliener.
Andere Sitten bei Oma und Opa?
Leider ist das Thema Tischmanieren oft auch ein Streitthema zwischen Elternteilen. Wer darüber oft debattiert, sollte sich fragen: Was hat mich geprägt? Warum ist mir das so wichtig? Idealerweise findet sich ein Kompromiss, mit dem beide gut klar kommen.
Oft zeigen sich Konflikte aber auch, wenn eines der Elternteile bei den eigenen Eltern zu Besuch ist. Denn ganz plötzlich sind sie wieder zu hören. Die Sätze, die man schon als Kind so gehasst hat. Wenn Oma in barschem Ton den Enkel rügt, er müsse aber wirklich seinen Teller leer essen, dann ist das für den Vater schwierig.
Sicher kommt es darauf an, wie oft die Kinder bei ihren Großeltern essen. Kinder haben meist keine Probleme damit, dass dort andere Regeln, etwa ein Tischgebet, gelten. Für Kleinere, die es nicht von zu Hause nicht kennen, dass sie partout sitzen bleiben müssen, kann eine Mahlzeit allerdings anstrengend werden. Und für ihre Eltern dann auch. Doch was tun, wenn Oma und Opa meinen, sie müssten die Enkel miterziehen?
Dipl. Psychologin Helga Gürtler, selbst Großmutter, rät Eltern: „Bei Kleinigkeiten sollte man großzügig sein. Und bei wichtigen Dingen klare Worte sprechen. Es wird darauf gedrungen, dass das Kind seinen Teller leer ist? Dann das Kind stärken und den Vorschlag machen, nur wenig auf den Teller zu legen, so dass es nach nehmen kann. Eltern geben die Richtung vor.“
Vielleicht ist es ja hilfreich, die Großeltern auf die Ideen von Jesper Juul aufmerksam zu machen. Oder an die eigene Kindheit zu erinnern. Und daran, dass die Enkelkinder bei ihnen wirklich Gäste sind – und zwar welche, die sich willkommen fühlen sollten und von Oma und Opa auch durchaus verwöhnt werden dürfen.