Genderneutrale Erziehung – mehr Chancen und weniger Stereotype

Geschlechterneutrale Erziehung ist in aller Munde. Bietet der neue Erziehungstrend Möglichkeiten die Chancengleichheit unserer Kinder zu erhöhen oder stiftet er am Ende nur Verwirrung?

„Nein Paul, der rosa Stempel ist nur für Mädchen“. Stereotype begegnen uns jeden Tag. Die Werbung lebt es uns vor, genauso wie viele große Bekleidungsmarken. Die Kinderabteilung ist rein optisch auf den ersten Blick in Blau für Jungs und Rosa für Mädchen aufgeteilt. Wer für sein Baby neutrale Farben bevorzugt, muss oft lange suchen. Im Spielzeugladen einen weiblichen Straßenarbeiter zu finden, ist ebenfalls eine Kunst. Die gesellschaftlichen Vorstellungen, was die kindliche Entwicklung angeht, sind oftmals festgefahren. Vertreter der genderneutralen Erziehung fordern aber genau das, eine Loslösung von den üblichen Klischees und Stereotypen. Aber kann das wirklich so einfach funktionieren? Die wohl umstrittenste Vorschule in Schweden hat einen Selbstversuch gestartet.

Egalia – Vorreiter oder „Ärgermacher“?

Der schwedische Staat hat im Jahr 1998 beschlossen, dass die Geschlechtergleichstellung in Kindergärten mehr Bedeutung zugewiesen werden müsste. Demnach sollten sich Kinder ohne geschlechtsspezifische Stereotype frei entwickeln dürfen. Gar nicht so einfach, denn dabei handelte es sich um ein hochgestecktes Ziel ohne einen festen Fahrplan. Erfahrungswerte gab es bisher nicht.

Im Jahr 2010 eröffnete schließlich in Stockholm die Vorschule Egalia. Die Leiterin und Lehrerin Lotta Rajalin beobachtete und analysierte in Vorarbeit das Verhalten von Erziehern und Erzieherinnen gegenüber Kindern. Dabei kam heraus, dass beide Geschlechter anders behandelt wurden. So wurde beispielsweise Jungen mehr Freiraum zugesprochen als Mädchen. Lotta Rajalin entschied, dass genau dort angesetzt werden müsste, bei dem Verhalten des Erziehungspersonals.

Egalia lebt ein völlig neues Konzept. Hier gibt es keine „Mädchen“ und „Jungen“, sondern nur „Freunde“. Auch die Pronomen „er“ und “sie“ wurden durch die geschlechterneutrale Kunstform „hen“ ersetzt. Um das Konzept ganzheitlich zu leben, werden auch Kinderlieder entsprechend umgedichtet. Die traditionellen Lebensentwürfe werden ordentlich auf den Kopf gestellt, das macht sich auch bei dem Blick in das Bücherregal bemerkbar. Klischeebücher existieren in der Vorschule nicht. Sehr wohl aber Literatur, in der es um ein männliches Giraffenpaar geht, das ein Krokodilbaby adoptiert. Beim Rollenspiel werden die Kinder ermutigt, auch andere Konstellationen auszuprobieren. Mama, Mama und Kind heißt dann das Spiel.

Genderneutrale Erziehung – mehr Chancen und weniger Stereotype (©Thinkstock)

Psychologen sehen geschlechterneutrale Erziehung kritisch

Auch wenn viele Menschen von der genderneutralen Erziehung überzeugt sind, warnen vor allem Psychologen vor dem neuen Erziehungstrend. Das Geschlecht ist in unserer Gesellschaft ein Merkmal, das identitätsbildend ist. Fühlen sich Kinder zu keinem Geschlecht zugehörig, fehlt ihnen die orientierungsgebende Gruppe, so die Kritiker. Durch das Gefühl „anders“ zu sein, befürchten Psychologen, dass sich Identitätskrisen entwickeln könnten. Auch gestörte Persönlichkeitsentwicklungen wären nicht ausgeschlossen.

In einer Gesellschaft, wo es eine Unterscheidung zwischen den Geschlechtern gibt, können genderneutrale Kinder auffallen. Wenn Nils mit rosa getupften Gummistiefeln durch die Nachbarschaft läuft, wird er womöglich Hänseleien ausgeliefert. Das kann mitunter sehr gefährlich für die kleine Kinderseele sein, so Experten.

Die Sorge, dass sich Mädchen automatisch zu Jungs ummodeln lassen und andersrum, ist allerdings unbegründet. Dass nicht alle Menschen mit der geschlechtsneutralen Erziehung einverstanden sind, wird auch in der Vorschule Egalia deutlich. Die Erzieher und Erzieherinnen erhielten Drohbriefe und die Tür der Einrichtung wurde mit Beschimpfungen beschmiert. Aber die Warteliste für die Aufnahme in die Vorschule ist lang. Ein bis zwei Jahre kann es dauern, bis das Kind in die Einrichtung aufgenommen wird.

Dass das Konzept von Egalia zukünftig auch in deutschen Kindergärten umgesetzt wird, ist allerdings unwahrscheinlich. Der Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Bildung und Erziehung in der Kindheit Ralf Haderlein sagt zu dem Thema geschlechtsneutrale Erziehung in Kindergärten: “Wir erachten das Konzept als pädagogisch nicht sinnvoll und lehnen es daher ab.“

Genderneutrale Erziehung – Sei was du magst!

Eltern sind in der Diskussion um das Für und Wider oft verunsichert. Ungeachtet dessen, ob und wie der Erziehungsstil gelebt wird, ist jedoch wichtig unvoreingenommen an die Erziehung des Nachwuchses heranzugehen. Ihm sollte die Freiheit gegeben werden seine Lebensgestaltung selbst mitbestimmen zu dürfen. Dazu gehört auch, Geschlechterrollen auszuprobieren.

Sei was du magst! (© Getty Images)

Viele Kinder erfüllen die Klischees, indem sie nur pinke Glitzerkleider tragen und eine Puppe im Kinderwagen vor sich herschieben. Diese Verhaltensweisen sind Teil der kindlichen Entwicklung. Daher sollten Eltern nicht versuchen, dieses Verhalten auf Geschlechterneutralität umzumünzen. Viel wichtiger ist es, seinen Sprösslingen beizubringen, dass Stereotype gelebt werden können, aber nicht müssen. Jungs müssen nicht zwanghaft mit Autos spielen und Mädchen müssen keine Barbiesammlung besitzen.

Die genderneutrale Erziehung muss also nicht extrem gelebt werden, indem es keine Pronomen mehr gibt. Es geht nicht darum, alle Geschlechter gleichzumachen, sondern vielmehr darum, Kindern die gleichen Möglichkeiten zu geben. Sie sollten sich nicht durch gesellschaftliche Erwartungen und traditionelle Rollenvorstellungen davon abhalten lassen, ihr Leben so zu gestalten, wie es ihnen passt. Schließlich kann auch eine Frau in den Weltraum fliegen oder Windräder reparieren.