Jesper Juuls Tipps für Mia und Niklas:
- Verwendet die Formel „Ich will“, sooft es geht. Das tut den Erwachsenen gut und hilft den Kindern, zu erkennen, dass auch Eltern Bedürfnisse haben.
- Wenn es einem nicht gut geht, ist es besser, das mitzuteilen und sich dann zurückzuziehen. So entzieht man der Umgebung keine Energie.
- Wer unter Depressionen leidet, kann in dem Maße bei praktischen Dingen helfen, wie es ihm möglich ist.
- Wer unter Depressionen leidet, hat die Verantwortung, sich darum zu kümmern, sich Hilfe zu suchen und sich zurückzuziehen.
Rückblick von Mia zur Umsetzung der Tipps
Der beste Ratschlag, den wir bekommen haben, war, zu Lisa zu sagen: „Ich will, dass du dieses oder jenes tust.“ Wir hatten immer so große Probleme, wenn wir loswollten. Der Rat lautete, zu sagen: „In fünf Minuten fahren wir los, und ich will, dass du bis dahin angezogen bist.“ Diese beiden Sätze haben unseren Alltag erheblich erleichtert. Dafür danken wir sehr!
Wir hatten zwar bisher noch kein gemeinsames Gespräch zu viert, aber ich hatte eines unter vier Augen mit ihr. Ich habe ihr erklärt, dass ich ab jetzt einiges anders machen werde und so weiter, genau wie Jesper Juul es vorgeschlagen hat. Seitdem läuft alles viel besser als vorher, obwohl sie leider noch immer schlecht isst, was auch ihre Launen beeinflusst. Sie ist unglaublich stur. Wenn sie etwas entschieden hat, dann bleibt das auch so.
Heute Morgen wurde sie wütend, weil ich nicht die ganze Zeit im Badezimmer geblieben war, während sie auf der Toilette saß. Sie schrie fast eine halbe Stunde lang vollkommen hysterisch herum, bis sie sich endlich wieder beruhigte. Das passiert, wenn sie nicht ihren Willen bekommt. Wir fanden es so lustig, dass Jesper Juul sie sofort lesen konnte!
Niklas macht alles, damit es ihm besser geht. Er macht Sport, isst vernünftig und hat aufgehört, Kaffee zu trinken. Zwischendurch aber werden die Anforderungen von den verschiedensten Seiten so groß, dass er wieder in seiner Depression versinkt. Das Problem ist, dass er das vor mir nicht zugeben will und schon gar nicht sich selbst eingesteht. Stattdessen wird er launisch, wütend und ganz einfach unerträglich.
An Tag zwei sieht es meistens schon besser aus, mittlerweile tut er das, was Jesper ihm gesagt hat. Er zieht sich zurück und übernimmt dann nur praktische Dinge im Haushalt. Außerdem kündigt er mir und Lisa an, dass es ihm nicht gut geht. An Tag drei oder vier nach Beginn der Depression wird er meistens traurig darüber, dass es ihm wieder nicht gelungen ist „sie zurückzuhalten“.
Solange er sich nicht schon am ersten Tag eingesteht, dass er eine Depression hat, wird es ihm nie gelingen, anders mit uns zu kommunizieren. Für mich ist das, als würde ich mit zwei verschiedenen Menschen leben, und ich tue mich schwer mit dem einen von ihnen. Es ist ein großes Glück, dass wir zwischendurch auch gute Zeiten haben, aber es zehrt unglaublich an unseren Kräften, an mir und an unserer Beziehung.
Brief von Mia an Jesper Juul vor dem Beratungsgespräch
Hallo!
Wir benötigen dringend eure Hilfe. Wir haben zwei Mädchen, die drei Jahre respektive sechs Monate alt sind. Die ältere Tochter fordert ununterbrochen die volle Aufmerksamkeit. Der Vater arbeitet viel und hat lange Fahrzeiten. Ich bin in Elter nzeit. Wir haben Anrecht auf 15 Wochenstunden Unterbringung im Kindergar ten, würden uns aber mehr wünschen. Zu Hause bei uns gibt es immer Streit um das Essen. Was gegessen werden soll, wie man isst, wo man isst und so weiter. Lisa, unsere Dreijährige, testet mich in einem fort. Sie wirft mit Lebensmitteln und G egenständen. Und wenn ich dann nicht wütend werde, versucht sie etwas anderes. Das kann damit enden, dass sie auf ihre kleine Schwester losgeht, mich schlägt oder mir direkt ins Gesicht brüllt. Alles nur, um mich aus der Reserve zu locken. Das Einzige, was ich am Ende tun kann, ist, sie in ihr Zimmer zu sperren. Ich muss Luft holen können! Ich habe keine Lust mehr, mit ihr irgendwo hinzufahren, bin auch nicht gerne mit ihr zusammen. Außerdem fange ich an, mich als Mutter infrage zu stellen. Als wir vor einiger Zeit bei Niklas’ Eltern zu Besuch waren und beim Abendessen saßen, fragte mich Lisa, ob ich wütend sei. „Nein, ganz und gar nicht. Ich bin froh“, antwortete ich. Da warf sie eine Gurkenscheibe auf den Boden und fragte: „Und bist du jetzt wütend, Mama?“
Sie kann schon unglaublich gut sprechen und ist ein sehr aufge wecktes kleines Mädchen. Wir bemühen uns, ihr Grenzen zu setzen, aber es ist so furchtbar anstrengend, dass sie nicht anerkannt werden. Die ewige Nörgelei und Quengelei machen alles kaputt, was eigentlich gemütlich sein sollte. Zwischendurch gibt es eine oder zwei Wochen, da ist sie das niedlichste Mädchen auf der Welt. Ich wünschte mir, dass das häufiger so wäre! Ich wäre so froh, wenn ihr mir helfen könntet.
Mit freundlichen Grüßen
Mia
Der amerikanische Psychiater und Familientherapeut Walter Kempler und der dänische Kinderpsychiater Mogens A. Lund sind seine Vorbilder bei dem Ansatz aktiv mit den Familien und den Kindern zusammen zu arbeiten. Er gründete 1979 gemeinsam mit Lund und Kempler das Kempler Institute of Scandinavia und 2004 gründete er das „familylab“. Jesper Juul ist der Autor von rund zwanzig Büchern, von denen zehn auf Deutsch erschienen sind. Seine bekanntesten sind „Das kompetente Kind“ und „Was Familien trägt – Die kompetente Familie – das familylab-Buch“. Auch „Nein aus Liebe“ und „Pubertät – Wenn Erziehen nicht mehr geht“ sind Bestseller. Gemeinsam mit Jesper Juul berät „familylab – die Familienwerkstatt“ die liliput-lounge. |
Bild oben: Beltz Verlag
(Seite 99-111 mit freundlicher Genehmigung des Verlages)