Buchtipp: „Kinder verstehen“ von Herbert Renz-Polster

Warum trotzt ein 3-Jähriger? Und wie kommt es, dass Kinder lieber Süßigkeiten als Brokkoli essen? Nach der Lektüre dieses Sachbuchs werden Sie Ihren Nachwuchs garantiert mit neuen Augen sehen…
Es ist eines dieser seltenen Bücher, bei denen man sich bestens unterhalten fühlt, weil es so flüssig geschrieben ist, und gleichzeitig Seite für Seite das Gefühl hat, dass einem die Augen geöffnet werden.
Der Autor, Herbert Renz-Polster, ist Kinderarzt und Dozent an der Universität Heidelberg. Und er scheint ein guter Dozent zu sein, denn er vermittelt wunderbar lebhaft und gut lesbar eine Unmenge Wissen. Dabei darf sich jeder Leser aussuchen, wie sehr er in die Tiefe gehen möchte: Am Schluss des Buchs gibt es Anmerkungen, wie man es von wissenschaftlicher Literatur kennt. Und auf der Webseite zum Buch finden sich weitere Fußnoten, die derjenige durchforsten kann, der es ganz genau wissen will. Ein innovatives Konzept!
Der Untertitel des Buchs, „Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt“, fasst den gedanklichen Ansatz kurz und knapp zusammen: Es geht nicht darum, Kinder als unfertige Erwachsene zu sehen, die Mängel aufweisen. Im Gegenteil, schreibt Renz-Polster: Kinder sind verdammt gut darin, Kinder zu sein! All ihre Verhaltensweisen haben einen Sinn, wenn man die Geschichte der Menschheit betrachtet.
Nehmen wir zum Beispiel das Einschlafen. Viele Eltern stöhnen, weil die Kinder entweder nur an der Brust oder bei Ihnen im Bett einschlafen wollen. Und auch nachts kriechen so manche Knirpse gern wieder unter die elterliche Bettdecke, weil sie sich vor Monstern fürchten. Das ist keine Marotte, erklärt uns der Autor, sondern hat in der Evolution das Überleben von Kindern gesichert, denn ein alleine friedlich einschlafendes Kind war höchst gefährdet.
Auch dass Kinder genau dann in die Trotzphase geraten, wenn die Mutter anno dazumal abgestillt hatte und ein weiteres Geschwisterchen erwartete, also wenn das ältere Kind etwa 3 Jahre alt war, diente dem Überleben des „entthrohnten“ Kindes. So konnte es nämlich effektiv auf seine Bedürfnisse aufmerksam machen und stellte sicher, dass das Neugeborene ihm nicht alle Aufmerksamkeit stahl. Ob ein Kind von heute Einzelkind bleibt oder sich das Geschwisterchen erst etliche Jahre später einstellt, spielt bei der Evolutionstheorie keine Rolle, denn das prägende Programm ist im Kind genetisch verankert.
Und wie ist das mit dem Brokkoli, und warum essen Kinder so gerne reichlich Schokolade? Nun, süße Nahrungsmittel liefern schnell umsetzbare Energie, und der Mensch ist von der Evolution so gepolt, dass er auf Vorrat isst, nach dem Motto „Man weiß ja nie, wann’s wieder was gibt“. Gemüse und anderes Grünzeugs hingegen war für den frühen Menschen potentiell giftig, weswegen es für Kinder oft bitter schmeckt. Wenn überhaupt, essen sie sehr vorsichtig davon. Einen guten Tipp hat Renz-Polster für die Eltern parat: Neue Lebensmittel soll man etwa 10 Mal anbieten und selber auch davon „voressen“, dann werden die Kinder irgendwann auch zugreifen.
Das Buch strotzt vor interessanten Einsichten und macht richtig Spaß beim Lesen. Und schön gestaltet ist es obendrein. Es wird sicher ein Standardwerk werden wie die Bücher von Remo H. Largo, der das Vorwort schrieb. Alle Eltern, die gerne mehr darüber wissen wollen, warum sich ihr Kind in bestimmten Situationen wie verhält, werden viel Freude daran haben. Unsere Empfehlung: Kaufen!
Herbert Renz-Polster, Kinder verstehen. Kösel Verlag 2009.
Hardcover, 512 Seiten, 19,90 €
ISBN 978-3-466-30824-8
Webseite zum Buch: www.kinder-verstehen.de
Webseite zu "Kinder verstehen"